Ein Jahr in Lissabon
noch nie gemacht. Sollen wir nicht lieber woandershin?“ – „Nee, das ist super. Fixe! Und total einfach.“
Die Fábrica erwartet uns hell erleuchtet, nur die Terrasse vor ihren Pforten schlummert im Dunkeln. Drinnen zeigen sich wunderbare große Räume, an den Wänden Ausstellungen verschiedener Künstler, daneben wird in kleinen Kämmerchen Kunsthandwerk hergestellt und verkauft. Linker Hand, im „Sala Walt Whitman“, bietet eine große Buchhandlung philosophische Literatur an, rechter Hand, im „Sala Deleuze“, wird am Tresen in weichem, orangefarbenem Licht Vinho tinto ausgeschenkt. Die ganze Fabrik ist voller Menschen, die nicht fünfzig aufwärts sind, wie ich es von Folklore erwartet habe, sondern zwischen zwanzig und vierzig. Alle sind gut gelaunt, alle ein bisschen alternativ. Und: Alle sind schon kräftig verschwitzt. Denn im ersten Stock, im „Sala Wittgenstein“, wird getanzt. Zu den Klängeneiner kleinen Band, die mit Geige, Akkordeon und Drehleier mittelalterlich anmutende Musik spielt. Ich will nur ein bisschen schauen, aber schon stupst Teresa mich in den Raum, und ich stehe im Kreis. „Du übernimmst die Schritte des Mannes!“, ruft Teresa mir noch zu – und dann setzt bereits die Musik ein. Die Frau in der Mitte, die ein Mikrofon vor dem Mund hat, sagt uns, wo’s langgeht. O Gott! Der Kreis dreht sich nach rechts. Und ich drehe mich mit. Der Kreis dreht sich nach links. Und ich drehe mich wieder mit. Und dann alle in die Mitte. Und danach atrás, also zurück. Und noch mal em frente, vorwärts, und wieder atrás. Em frente, atrás. Em frente, atrás. Vor, zurück, vor, zurück. Und jetzt paarweise, einmal aufeinander zu drehen und wieder auseinanderdrehen, zum nächsten Partner weiterrücken – „Trocamos de pares!“, kurze Drehung und wieder weiter, drehen, kurze Konversation führen: „Ganz schön heiß hier!“ – „Sim, parece tropical.“ – Weiter zum Nächsten, drehen, und jetzt das Ganze noch mal mit Lächeln – was für ein Spaß! Das war also die Quadrille. Und nun kommt der Danca grega, ein Sirtaki, Alexis Sorbas lässt grüßen, „muito giro“, der Schritt, sehr schön, aber ich krieg ihn einfach nicht hin. Egal, weitermachen, irgendwie wieder einfädeln, ohne den gesamten Kreis aus dem Gleichgewicht zu bringen, Lachkrampf überwinden und: Ausfallschritt, zurück über Kreuz und um passo à direita, mais um, e agora: um passo à esquerda! Aaaaah, wieso mache ich eigentlich immer alles spiegelverkehrt? Pausa! Pausa! Não consigo mais! Mehr schaffe ich nicht. Aber ich komme nicht raus aus dem Gewühl, schon gar nicht jetzt, wo die Mazurka beginnt. Also Schweiß von der Stirn wischen, Augen zu und – weiter! Und danach Augen zu und – weiter zum Schottisch. Meu Deus, ist das ein Spaß! Alles dreht sich. Der Raum dreht sich. Die Welt dreht sich. Mein Leben dreht sich. Ich bin in Lissabon undtanze im Wohnzimmer von Ludwig Wittgenstein einen Schottisch mit Alexis Sorbas – wenn das kein origineller Karneval ist! „Fico maluca – ich werd verrückt!“
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Wenn sich alles dreht, muss man sich setzen. Muss geradeaus schauen, einen Punkt fixieren – so lange, bis der Schwindel sich gelegt hat und die Welt wieder in die Fugen geraten ist. Teresa und ich sitzen nun auch, lassen die vom Tanzen erschöpften Füße baumeln: Auf einer schmutzigen Dockmauer in Almada warten wir, den Blick gen Osten gerichtet, auf den Sonnenaufgang. Denn als wir vor einer Stunde, um fünf Uhr morgens, die Fábrica verlassen haben, war uns nicht danach, schlafen zu gehen. Die Musik noch im Ohr, die Bewegung noch im Körper, wollten wir sehen, wie der Tag erwacht, wollten Lissabon beim Aufstehen über die Schulter schauen – und nahmen kurzerhand die erste Fähre auf die andere Seite des Tejo.
Mit einem Pappbecher Kaffee in der Hand blicken wir auf die Stadt, die wie ein müdes Krokodil im Halbschlaf liegt, während um sie herum sich der Tejo schmiegt. Noch ist es dunkel. Die Lichter der Straßenlampen blitzen wie kleine Sterne, ganz rechts sticht die weiße Kuppel des Pantheons heraus, ganz links liegen die Wälder des Monsanto geheimnisvoll im Schwarz. Punkt 6.30 Uhr gehen die Laternen auf einen Schlag aus, nur die Docks bleiben hell erleuchtet. Der Himmel, der noch dicht von Wolken ist, beginnt sich zu lichten: In den Fernen des Horizonts, hinter der Brücke Vasco da Gama, bricht sich ein warmes Orange Bahn, immer heller und heller wird es, geht über in ein Strahlen – bis sie
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