Ein Jahr in Lissabon
reiße. Und der Komiker Herman José parodiert Angela Merkel, die Portugal einen Besuch abstattet, um den portugiesischen Kindern ihre Zukunft zu zeigen: „Das wird euer Mittagessen sein, liebe Kinder: eine Sardine! Für drei!“
Teresas Sicht auf die Dinge ist differenzierter, wie sie mir nun, während wir im Restaurant sitzen und beim Kellner unser Essen bestellen, erklärt. Sie ist der Meinung, dass die Regierung sich den Zorn des Volkes auf die Troika zunutze macht, um von ihren eigenen Versäumnissen abzulenken. „Die haben so viel Mist gebaut, das geht auf keine Kuhhaut. Schon als Cavaco Silva Premierminister war, Mitteder Achtziger bis Mitte der Neunziger, sind die Weichen falsch gestellt worden.“ Er habe die Fördergelder der EU damals nicht gut angelegt, er sei mitverantwortlich für die schwere Rezession, in der sich das Land nun befindet. „Unsere Wirtschaft kommt nicht mehr hoch, weil unsere Unternehmer keine Kredite mehr bekommen.“ Jetzt bemühen sich die Politiker, ihr Volk zu animieren und bei Laune zu halten und die Auflagen der EU zu befolgen. Angesichts der Brisanz der Situation hält Teresa diese Maßnahmen aber für Kosmetik, für oberflächliche Zugeständnisse an die EU-Aufsicht: „Vier Ferientage haben sie gestrichen, im Gesundheits- und Bildungssektor kürzen sie sowieso andauernd, das 13. und 14. Monatsgehalt für die Staatsbediensteten steht auf der Kippe – und vor Kurzem haben sie zwanzig Prozent der staatlichen Elektrizität an China verkauft. Na und? Das sind doch Tropfen auf den heißen Stein! Kurzsichtiger Aktionismus!“ Was eigentlich nötig sei, so Teresa, sei eine grundlegende Reform der Wirtschaftsstrukturen, um die Exportfähigkeit zu erhöhen und um auf diese Weise die Glaubwürdigkeit der portugiesischen Wirtschaft im Ausland wieder zurückzugewinnen.
Während in Griechenland der Krieg tobt, scheint in Portugal alles ruhig: Zwei Streiks und mehrere Demonstrationen habe ich bereits erlebt, aber ohne Straßenschlachten. „Wir sind ziemlich gut im Reden, und dann passiert doch nichts“, schimpft Teresa und fährt sich durch die kurzen braunen Haare. Der Greve Geral, der Generalstreik, ist in ihren Augen ein Witz, weil so wenige daran teilnehmen, dass die Einschränkungen gar nicht spürbar werden: „Die meisten Mitarbeiter haben nur kurze Verträge und trauen sich deshalb nicht, zu protestieren. Also fahren eben auch während des Streiks noch ein paar Busse und Bahnen, sodass die ganze Aktion unglaubwürdig wird.“
Wie das Alter, so ist auch die Armut untrennbarer Bestandteil von Lissabon. Viele Bettler säumen den Weg, wenn ich durch die Stadt gehe. Nachts liegen sie in den Nischen der Häuser, zum Schutz vor Kälte und Übergriffen zu Paketen verschnürt wie Tote. Am Bahnhof Santa Apolónia habe ich mehrfach beobachtet, wie Essen an die Obdachlosen verteilt wird. Abends um zwanzig Uhr kommt ein Wagen, auf den viele warten, um Lebensmittel und Decken in Empfang zu nehmen. Immer ist der Vorgang von einer großen Dringlichkeit. Da gibt es welche, die sich vor Hunger fast an der Suppe verschlucken, die im Pappbecher gereicht wird. Da gibt es andere, die sich um einen Joghurt streiten, wieder andere wollen großzügig teilen. Es finden sich unter den Bettelnden auch einige Menschen, die nicht so arm aussehen, die vielleicht in einer Grauzone auf dem letzten Schritt zur Armut leben und ihre Familie mit dieser Unterstützung durchzubringen hoffen.
Tatsächlich ist Armut in Lissabon nicht dasselbe wie Armut, denn sie trägt hier viele Schattierungen. Während ich Teresa zuhöre und mir ein paar Oliven aus dem Schälchen auf dem Tisch picke, denke ich an den alten Mann, den ich neulich im Bairro Alto gesehen habe und den ich aus der Ferne für einen wohlhabenden pensionierten Rechtsanwalt hielt, weil er im gepflegten Nadelstreifenanzug und mit Aktentasche über die Straße ging, als sei er auf dem Weg zu einem Klienten. Doch plötzlich begann er, den Mülleimer zu durchwühlen, und als ich näherkam, sah ich, dass sein Anzug mindestens dreißig Jahre alt und schon ganz fadenscheinig war. Alles wirkte, als habe er zwar die Fassade seines früheren Daseins mühsam aufrechterhalten können, lebe aber längst am Existenzminimum.
Ich denke an die ältere Dame, der ich öfters begegne und die jede Telefonzelle und jeden FahrkartenautomatenLissabons nach ein paar vergessenen Cents absucht. An Victors Kumpel, der vierzig Jahre lang bei der Carris, den Öffentlichen
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