Ein Jahr in Lissabon
sich zeigt, die Sonne. Erst nur schüchtern, dann zunehmend forscher, und schließlich steht sie soleuchtend am Himmel, dass auch die Stadt im warmen Pastell zu schimmern beginnt und die Möwen erwachen, um den Schiffen, die den Tejo kreuzen, hinterherzufliegen. „Weißt du, wie wir Portugiesen es nennen, wenn die Sonne aufgeht?“, fragt mich Teresa: „Nascer do sol – die Geburt der Sonne.“ Ich begrüße die frisch geborene Sonne wie eine gute Freundin, denn hier in Lissabon habe ich mich so sehr an sie gewöhnt, als wäre sie ein Teil von mir. Wenn sie da ist, wärmt sie, macht den Körper weich und öffnet die Seele. Und die wenigen Tage, an denen sie nicht da ist, vermisse ich sie.
Das Sonnenlicht in Lissabon ist besonders, vor allem im Winter scheint es mir fast so außergewöhnlich wie das skandinavische Nordlicht. Es ist klar und dennoch warm, streichelt die weißen Hauswände und lässt sich von ihnen reflektieren, um sich kurz darauf auf den Fluss zu legen und sich auch von ihm widerspiegeln zu lassen. Das Sonnenlicht hier ist so besonders, weil es den Tejo gibt und beide, das Licht und der Fluss, im ständigen Dialog miteinander stehen. Dabei besitzt der Tejo keine Poesie. Aus der Nähe ist er so dreckig und prosaisch wie ein alter Wischlappen, an seinen Rändern bevölkert von schwarzen, aalartigen Fischen, die einzig und allein davon leben, die Kloake zu fressen, die ihnen das Wasser freizügig darbietet. Nie habe ich die Begeisterung verstehen können, mit der sich Touristen an die Docks setzen, um dort zu dinieren und die Nächte durchzufeiern. Nie hatte ich das Bedürfnis, einen längeren Spaziergang am Tejo zu machen, so schmuck- und lieblos ist das Ufer, ganz ohne Bäume, einfach nur funktional betoniert.
Und doch liebe ich den Tejo. Immer dann, wenn ich um die Ecke biege und am Ende der Straßenflucht einen Zipfel Wasser hervorlugen sehe. Immer dann, wenn ich am Aussichtspunktstehe und der Fluss so blau und so breit daliegt, als wolle er mir vorgaukeln, ein Meer zu sein. Und vor allen Dingen liebe ich den Tejo, weil er dazu beiträgt, Lissabon zu verzaubern, indem er tagsüber die Sonne intensiviert und nachts den Lichtern der Stadt als Spiegel dient. Ich kann mich nicht entscheiden, wann ich das Licht in Lissabon am schönsten finde. Vielleicht jetzt, frühmorgens, wenn es noch ganz zart ist. Vielleicht aber auch dann, wenn es dunkel zu werden beginnt, die langsam verlöschende Sonne sich mit den Straßenlampen mischt und die ganze Stadt in einen Hauch von warmem Orange eintaucht.
Eines aber weiß ich genau, als Teresa mich nun, während unsere Augen auf der Stadt ruhen, die sich gähnend in der Sonne räkelt, fragt: „Wenn du nur ein Wort hättest, um Lissabon zu beschreiben, welches wäre es?“ Obwohl ich so viele Worte für Lissabon habe, weil diese Stadt so viele Seiten hat, kommt dieses eine in eben diesem Moment ganz schnell aus meinem Mund: „Luz.“ Licht.
Março
A NFANG M ÄRZ IST ES BEREITS SO HEISS , dass ich mich frage, wie ich den Sommer überleben soll. Die Thermometer zeigen 25 Grad Celsius, es hat seit acht Wochen nicht geregnet, die Bauern machen sich Sorgen um die Ernte. Obwohl sich für mich alles nach Sommer anfühlt, ist es das, was sich in Lissabon Frühling, „a primavera“, nennt. Die Kastanienverkäufer auf dem Rossio sind Erdbeerverkäufern gewichen, die Orangen an den Zierbäumen auf der Rua do Sapadores verschrumpeln, und stattdessen beginnt es allerorten zu blühen: strahlend weiß die Mandeln, leuchtend rot die Bougainvilleen, violett der Flieder.
Ich betrachte die Ulmen in unserem Palastgarten, an deren Ästen ein zartes Grün hervorzulugen beginnt, und bekomme Lust auf Natur. Tiago, der seit unserem Besuch beim Cabeleileiro wieder Drei-Tage-Bart trägt, fällt ein, dass er schon als Kind Bauer werden und auf dem Land leben wollte – und so schlägt er vor, ob wir uns nicht um den Garten kümmern sollen, der müde vor sich hin verwildert. Der Chef ist einverstanden, die Vorbereitungen für die kommende Ausstellung sind größtenteils abgeschlossen, es gibt Zeit, jeden Tag zwei Stunden das Unkraut auszurupfen und das Laub, das noch vom Herbst auf dem Rasen liegt, zusammenzurechen. Also streifen wir die Arbeitshandschuhe über, Tiago streckt mir seine Arme entgegen und prahlt stolz: „Schau mal, ich hab zwei linke Hände!“
Mit seinen 24 Jahren – und noch ehe er mit seinem Malereistudium fertig ist – scheint mir eines der auffallendsten
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