Ein Jahr in Lissabon
Charaktermerkmale Tiagos zu sein, dass er sich permanentin einer Krise befindet. „Estou em crise“ waren seine ersten Worte, ehe er mir seine Mappe gezeigt hat – und die Mappe war sehr beeindruckend. Wenn Tiago nicht gerade in der Vollkrise rührt, dann zweifelt er zumindest: Während er im Palast ist, um sein Praktikum zu machen, fragt er sich, ob es nicht besser wäre, sich um sein Studium zu kümmern. Und während er in der Vorlesung sitzt, grübelt er, ob es nicht sinnvoller wäre, etwas Handfestes zu tun. Es gibt Menschen, die der Meinung sind, diese Anfälligkeit für Zweifel sei typisch portugiesisch. Die Spanier beispielsweise, mit denen ich hier in Lissabon gesprochen habe und die zugegebenermaßen ein anderes Temperament besitzen, halten die Portugiesen für Pessimisten und Melancholiker – ein Vorurteil, das sich hartnäckig hält. Wohingegen ich mich darüber wundere, dass noch niemandem aufgefallen ist, was für einen verdammt guten Humor die Portugiesen haben. Fast alle, die ich kenne. Und ganz besonders Tiago.
Aber ich will mich nicht mit Klischees über Portugiesen und andere Nationen aufhalten, denn nun, da Tiago mir seine beiden linken Hände gezeigt hat, fangen wir an, dem Unkraut den Garaus zu machen. Mit Hacken, die wir irgendwo in einer Ecke gefunden haben und die aus dem 18. Jahrhundert zu stammen scheinen. Wir haben viel Vergnügen bei der Arbeit: Als wir ein Stück Stoff aus der Erde ausgraben, frotzeln wir, ob dazu vielleicht eine Leiche gehört, die Leiche des Marques de Pombal. Und als wir nach zwei Stunden nur drei Meter vorangekommen sind, spotten wir, dass dort, wo wir vor zwei Stunden angefangen haben, das Gras schon wieder nachgewachsen zu sein scheint.
Am nächsten Tag kommt Tiago nicht – obwohl er sich mit „Até amanhã“, bis morgen, verabschiedet hat. Ich mache mir keine Gedanken, arbeite alleine weiter und genieße den Frieden dieses Gartens, die Musik, die von der Ballettschuleherüberschallt, und die frische Luft. Am übernächsten Tag kommt Tiago auch nicht. Ich arbeite alleine weiter und stelle fest, dass es da Pflanzen in diesem Garten gibt, deren Wurzeln sich unendlich lange und unendlich mühsam in den Boden gebissen haben. Am überübernächsten Tag kommt Tiago auch nicht, und ich fühle mich ein bisschen müde von diesen Pflanzen mit den unendlich langen Wurzeln, während die Kollegen spötteln, dass Tiago vor dem Garten flieht. Am überüberübernächsten Tag kommt Tiago auch nicht, und die Wut, die ich inzwischen auf die Pflanzen mit den langen Wurzeln habe, wächst in Richtung Tiago weiter. Also schreibe ich Tiago eine Mail, wo er denn stecke, ob alles in Ordnung sei, und wenn ja, warum ich die Gartenarbeit nun eigentlich alleine machen müsse. Eine Flut an Entschuldigungen folgt, sodass ich mich fast dafür schäme, nachgefragt zu haben. Ich bin sicher, dass Tiago in der nächsten Woche kommen wird, und freue mich auf seine Hilfe.
Doch auch in der nächsten Woche kommt Tiago nicht. Während ich den Pflanzen mit den unendlich langen Wurzeln an den Kragen gehe, halte ich innerlich einen Vortrag über Kollegialität und Zuverlässigkeit – auf Portugiesisch. Ich halte einen weiteren Vortrag darüber, dass in der deutschen Sprache sowohl Menschen als auch Großmutters goldene Armbanduhr versetzt werden könnten – und ob das denn nun das Niveau sei, auf dem sich unsere Freundschaft bewege. Mir fallen alle schlechten Vorurteile ein, die ich je über die Portugiesen gehört und denen ich mich immer standhaft verweigert habe. Mir fällt ein, wie ich mich mit Holger, einem deutschen Kneipenbesitzer, der seit fünfzehn Jahren in Lissabon lebt, unterhalten und mich gegen seine Behauptung, die Portugiesen seien faul und unzuverlässig, gewehrt hatte. Mir fällt ein, wie mir Milan, ein serbischerChoreograf, vorjammerte, dass er hier in Lissabon keine Projekte machen könne, weil die portugiesischen Tänzer undiszipliniert seien. Mir fällt ein, wie Tiago mir vor einigen Monaten, als ich letzte Hand an eine Arbeit anlegte und die anderen schon fertig und mit Plaudern beschäftigt waren, zurief: „Hey, woran erkennst du, dass du in Portugal bist? Genau! Einer arbeitet, und die anderen schauen zu!“ Mir fällt ein, dass ich mich damals schlappgelacht hatte und den ironischen Umgang der Portugiesen mit sich selbst unglaublich charmant fand. Und dass ich zurückrufen wollte: „Haha, und der Depp, der arbeitet, ist natürlich ein Deutscher!“ – mein Portugiesisch
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