Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Roth
Vom Netzwerk:
translation“, muss nicht mehr permanent alle Synapsen auf Sendung haben, um mich in der fremden Sprache artikulieren zu können. Bisweilen purzeln die Worte ganz von alleine aus meinem Mund und fügen sichdabei, mit etwas Glück, auch in die ordnungsgemäße Syntax. Ja, nicht selten kann ich sogar ein Kompliment melken – meist dann, wenn meine portugiesischen Gegenüber von meiner guten Aussprache geblendet sind, mit der ich darüber hinwegzutäuschen pflege, wie sehr es mir an Grammatik mangelt. Fraglos schmeichelt mir das Lob – und doch, das gebe ich zu, genügt es mir nicht. Denn insgeheim träume ich von Wundern. Ich male mir aus, dass es so biblisch wie Pfingsten sein wird, wenn eines Tages, vielleicht schon morgen, Feuerzeichen auf mich herabregnen werden und ich plötzlich – von einer Sekunde auf die andere – alle „schs“ der portugiesischen Lingua problemlos verstehen und reproduzieren kann. Wenn ich endlich – erleuchtet von einem magischen inneren Dolmetscher – das Dicionário, das Grammatikbuch und sogar die Liste mit den unregelmäßigen Verben im Tejo versenken kann.
    In den Augen der anderen, der Fremden in Lissabon, hat dieses Wunder bereits stattgefunden, denn sie haben meine Beförderung zur Einheimischen längst vorgenommen. „Do you speak English?“, will der Afrikaner im Jardim da Estrela, der gerade noch mit ausgreifenden Gesten telefoniert hat, von mir wissen. „Ja? Gott sei Dank! Eine Portugiesin, die Englisch spricht!“ – „Ich bin keine Portugiesin.“ – „Ach, deshalb! Ich hab mich schon gewundert. Die Portugiesen können nämlich kein Englisch.“ – „Das stimmt nicht. Ich kenne sehr viele, die es sehr gut beherrschen.“ – „Nein, sie können es nicht. Anyway. Kannst du mir helfen? Wie heißt es auf Portugiesisch, wenn ich jemanden fragen will, ob wir uns im Café ,Martim Moniz‘ treffen können?“ – „Podemo-nos encontrar no Café ,Martim Moniz?‘“ Er wählt eine Nummer auf seinem Handy und spricht hinein. „Sch tra Café ,Martim Moniz?‘“ Am anderen Ende offensichtlich Unverständnis, er wiederholt noch einmal. „Sch tra Café,Martim Moniz?‘“ Was für eine schlechte Lehrerin ich doch bin, denke ich beschämt, ich hätte die Aussprache mit ihm trainieren sollen, ehe ich ihn in den kommunikativen Nahkampf entließ, aus eigener Erfahrung weiß ich schließlich – doch da drückt er mir plötzlich das Handy in die Hand: „Sag du es bitte!“ Ich zögere, dann spreche ich in das unbekannte Schweigen am anderen Ende: „Desculpa, o Senhor quere saber, se pode vir ao Café ,Martim Moniz‘.“ – „Ich habe ihm doch schon drei Mal gesagt, dass ich nicht will“, schimpft eine Frauenstimme am anderen Ende und legt auf. Jetzt sitze ich in der Tinte. Fragender Blick vom Herrn Afrikaner, erwartungsvoller Blick vom Herrn Afrikaner. Hat nicht jede Übersetzung einen Interpretationsspielraum? Weil sich die Charakteristika der einen nicht so einfach in die Charakteristika der anderen Sprache übertragen lassen? Und insbesondere das Portugiesische doch viel uneindeutiger als das Englische ist? „So what?“, fragt der Herr Afrikaner. So what! „Sorry, aber sie hat gesagt, dass sie keine Zeit hat.“
    Es passiert mir immer öfter, dass ich von Touristen, die jetzt, im Frühling, die Stadt noch zahlreicher bevölkern als im Winter, um Rat konsultiert werde, und ich genieße es hemmungslos, vor den Ausländern die Einheimische zu mimen. Eine orientierungslose italienische Familie fragt mich nach dem Weg – ich gebe fachkundig auf Portugiesisch samt Handzeichen Auskunft: „Vira à direita, depois vira à esquerda, e já está! – Gehen Sie nach rechts, dann nach links, und schon sind Sie da!“ Ein strahlendes Dankeschön vonseiten der Italiener. Wie nett die Portugiesen doch sind, werden sie später den Freunden in Modena berichten. Den Japanern, die sich von mir fotografieren lassen, wünsche ich noch einen angenehmen Aufenthalt in Lissabon – selbstverständlich auf Portugiesisch, weil es dann einfach authentischer ist. Fehlt nur, dass ein paar Deutsche mich knipsen,um mich beim heimischen Dia-Vortrag als „typische Lisboeta auf dem Weg zur Arbeit“ zu präsentieren. Aber das krieg ich bestimmt noch hin.
    ✽✽✽
    Doch wie sieht eine typische Lisboeta eigentlich aus? – frage ich mich, während ich in der U-Bahn Richtung Chiado sitze und den Blick unter den Passagieren umherstreifen lasse. Davon abgesehen, dass sie, dank der vielen

Weitere Kostenlose Bücher