Ein Jahr in Lissabon
Flip-Flops kaufen soll.
Am fünften Tag lerne ich von Marta das Sprichwort „Abril – águas mil“ (Tausend Wasser im April) und fange an, die Sonne zu vermissen.
Am sechsten Tag werde ich verzagt und frage mich, warum ich die Worte für regnen („chuvar“) und weinen („chorar“) so oft verwechsle.
Am siebten Tag hört alles so plötzlich auf, wie es gekommen ist. Die Sonne wagt sich schüchtern hinter den Wolken hervor und bringt die nasse Stadt zum Glitzern, das Wasser fließt langsam ab, die Blätter glänzen, die Dächer auch. Der Horizont beginnt, sich wieder blau einzufärben, und ist von einer unendlichen Dichte, denn durch die feuchte Luft wirkt das Licht tiefer und nuancenreicher als sonst. Zurück bleibt ein blank geputztes Lissabon, das wie neugeboren ist und in das nach und nach das Leben zurückkehrt, weil sich die Straßencafés und die Plätze wieder mit Menschen füllen.
Und deshalb ist die Stadt nun bereit, es rote Nelken regnen zu lassen.
✽✽✽
Die ersten Nelken habe ich bereits gestern gesehen – im Arm einer alten Dame. Sie saß an der Bushaltestelle und hielt ein Meer aus mindestens fünfzig roten Blumen vor der Brust, vermutlich, um sich heute auf die Avenida da Liberdade zu stellen und zu rufen: „Cravos! Cinquenta cêntimos! Nelken für fünfzig Cent!“ So, wie das viele tun. Denn heute kauft jeder, der an die Freiheit glaubt, eine rote Nelke und trägt sie im Knopfloch, im Haar, in der Hand. Weil heute der 25. April ist, der Tag der Nelkenrevolution. Der Tag, an dem sich Portugal 1974 von einer 48 Jahre währenden Diktatur befreit hat.
Auch Teresa und ich haben uns eine Nelke besorgt, ehe wir uns an den Straßenrand gestellt haben, um darauf zu warten, dass die Demonstration beginnt, die jedes Jahr an diesem wichtigsten Feiertag des portugiesischen Kalenders stattfindet. Viele sind gekommen, um es uns gleichzutun: alte Menschen, die die Revolution noch erlebt haben, und junge, die eine neue Revolution für nötig halten. Viele sind aber auch nicht gekommen. Denn es gibt sie noch, die alten Salazaristen, die nicht aufhören können, an der Vergangenheit festzuhalten. Wie jener Mann etwa, mit dem ich mich vor einigen Wochen unterhalten hatte und der die von Diktator Salazar erbaute Brücke über den Tejo, die nach der Revolution in „Ponte de 25. Abril“ umbenannt wurde, noch immer hartnäckig „Ponte Salazar“ nannte. Und so dreist war, mir lächelnd ins Gesicht zu sagen, dass er nicht gerne von Revolution, sondern von „terramoto“, von Erdbeben, zu sprechen pflege – weil es in seiner Wahrnehmung kein befreiendes, sondern ein zerstörendes Ereignis gewesen sei. Es gibt diejenigen, die zwar nicht so bekennend faschistisch sind wie jener Mann, sich aber irgendwie nach den alten Zeiten zurücksehnen, denn: So schlecht sei es damals nun auch wieder nicht gewesen! Diese Menschen haben michdamit erschreckt, dass sie behaupteten, die portugiesische Diktatur sei ja nur eine „softe“ gewesen – was angesichts der Tatsache, dass während des Estado Novo brutal gefoltert und jeder, der sich gegen das Regime geäußert hatte, inhaftiert wurde, eine nicht minder bedenkliche Sicht ist. Es gibt die Linksintellektuellen, die die Revolution nicht akzeptieren, weil sie in ihren Augen nur ein Putsch des Militärs gewesen ist – eines Militärs, das nach der Machtübernahme eine Demokratie in Portugal etabliert habe, die doch gar keine wirkliche Demokratie sei.
Doch nun, um 15.30 Uhr, spielen diese Differenzen keine Rolle mehr. Denn nun schallt über die gesamte Avenida da Liberdade das Signal, das damals, um Mitternacht vom 24. auf den 25. April, im Radio erklungen war: das Lied „Grândola“ von José „Zeca“ Afonso, dem Sänger, der, geflohen in die Emigration, dem Fado ein neues, ein politisches Gesicht verliehen hatte. Ein Lied, das schon allein deshalb revolutionär war, weil es dem Volk, das von Salazar bewusst ungebildet und klein gehalten wurde, die Hauptrolle zuspricht. Damals, 1974, war es für die Militärs das Zeichen gewesen, loszulegen. Nun, Jahrzehnte später, halten alle ihre Nelken hoch und singen mit: „Grândola vila morena, / Terra da fraternidade,/ O povo é quem mais ordena,/ Dentro de ti ó cidade. – Grândola, braune Stadt, Land der Brüderlichkeit, das Volk regiert in dir.“ Der Umzug beginnt. Ein Panzer, der mit bunten Graffiti bemalt ist und auf dem „Liberdade!“ steht, fährt voraus. Dann folgen die politischen Organisationen, die
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