Ein Jahr in Lissabon
Tatsächlich strahlt der Ort etwas Sakrales aus, tief geborgen fühlt man sich, und der Blick nach draußen gehört zu den schönsten Aussichten, die ich – bei all den schönen Aussichten, die ich bereits in Lissabon geschenkt bekommen habe – je gesehen habe. Umgeben von Dunkelheit und einer tiefen Stille blickt man hinaus auf das Meer und den Horizont, sieht nichts als Wasser und Ewigkeit. Atemberaubend. Wir sind uns einig, und es klingt in diesem Moment gar nicht makaber, dass wir auch gerne hier begraben wären.
Doch auch in erhabenen Momenten knurren Mägen. Es ist Mittagsessenszeit, und zum Kochen ziehen wir zu den Rückläufern der bergigen Welle weiter: Circa vier Kilometer vom Strand entfernt, wo Besiedelungen der ausgehenden Bronzezeit nachgewiesen wurden und wo in absehbarer Zeit ein Parque Arqueológico aufgebaut werden soll, haben Wissenschaftler eine kleine Basisstation errichtet. Pedro erzählt uns, dass es in Portugal nur so wimmelt von archäologischen Stätten. „Nur zwanzig Prozent des gesamten Vorkommens sind überhaupt erschlossen“, schätzt er. Weil das Geld fehlt – und auch die Notwendigkeit.
Wir haben bereits angefangen, ein Loch in die Erde zu graben, nicht, um nach fehlendem Geld zu suchen, sondernum es nun mit Steinen auszulegen und die Übergänge mit Lehm zu kitten. Das wird unser Kochtopf sein. Doch erst muss Pedro all sein jungsteinzeitliches Geschick aufbringen, um Feuer zu machen. Etwa fünfzehn Minuten dauert es, bis er mithilfe eines Feuersteins und eines Baumpilzes, einem sogenannten Zunderschwamm, zunächst trockenen Samen und dann trockenes Holz zum Brennen gebracht hat. Nun lodert es frech in unserem Lehmloch. Wir warten, bis es zur Glut heruntergebrannt ist, und legen dann das Fleisch darauf: „Leckeres Schwein, direkt aus dem neolithischen Supermarkt“, grinst Pedro und garniert das Fleisch noch mit Muscheln: „Die geben ein bisschen Feuchtigkeit und außerdem Salz. Ganz schön schlau, die Köche aus der Steinzeit, oder?“ Um den Topf zu verschließen, konstruieren wir ein Gitter aus Holzstöckchen auf der Öffnung des Lehmlochs, decken es mit Blättern und einem Stück Ziegenhaut ab. „So haben wir eine gute Thermik und eine konstante Temperatur in unserem kleinen Kesselchen.“ In einem zweiten Loch kochen wir noch Linguerão, lange, stabförmige Muscheln, die ich bisher noch nicht kannte und die ich erst nach langen Recherchen unter dem deutschen Namen „Riesenzungenmuscheln“ finden kann – und dann gilt es, zwei Stunden zu warten, bis unser Essen fertig ist.
In der Zwischenzeit zeigt Pedro uns,wie man aus einem Stein ein Messer herstellt. Wir legen Ziegenleder auf unsere Knie, um uns nicht zu verletzen, und beginnen,von einem Feuerstein möglichst scharfkantige Abschläge zu machen. Dann passen wir die Klingen in kleine Holzstöckchen ein, kitten sie mit Harz und Bienenwachs und umwickeln sie zur Sicherheit noch mit reißfestem Schilfgras.
Es ist so weit, das Essen ist fertig. Zwar mogeln wir heute und essen von Papptellern – doch mit seinen Studenten wird Pedro ein paar Tage vor dem Kochkurs Teller ausLehm anfertigen, die dann gebrannt werden. Erst begutachte ich das steinzeitliche Essen, das Pedro mir reicht, skeptisch – ein Stück Fleisch mit Asche drumherum sowie Muscheln, ebenfalls mit Asche gewürzt – und dann probiere ich. Beides schmeckt köstlich, sehr herb und sehr aromatisch. Besser als das beste Barbecue, das ich je verzehrt habe! Und vielleicht auch deshalb so besonders lecker, weil wir mit den Händen essen.
Als Nachtisch werden Heidelbeeren serviert. Nicht selbst gesammelt, auch hier geschummelt und im Supermercado eingekauft. „Aber mit Sicherheit können wir davon ausgehen, dass die Steinzeitmenschen sich davon ernährt haben“, versichert Pedro, ehe er von Inês einen Kuss und die goldene Kochmütze verliehen bekommt, die sie schnell aus zwei Papptellern gebastelt hat. Cinco estrelas, so finde auch ich, eindeutig fünf Sterne hat er verdient, unser Chefkoch. Nicht nur für das Essen, sondern für die gesamte Reise in die Tiefenschichten portugiesischer Vergangenheit.
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Die Landkarte, die O Senhor Silva mir vor einigen Wochen im Café „A Brasileira“ auf die Rückseite des Konzert-Programmzettels gezeichnet hat, hängt seither über meinem Schreibtisch an der Wand. Sie soll mich daran erinnern, dass Portugal nicht nur aus Lissabon besteht, sondern dass es viele Orte gibt, die es zu sehen lohnt. Mehrfach bin ich in
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