Ein Jahr in Lissabon
Kommunisten, die Sozialisten, die Jugendbewegungen, die Gewerkschaften, die Gruppe der Immigranten, angeführt von tanzenden Brasilianern, Arbeiter aus dem Alentejo mit schwarzen Hüten und folkloristischen Tüchern. Alle skandieren sie: „25 d’Abril sempre – fascismo nunca mais! 25. April für immer, niemals mehr Faschismus!“Und: „Abril está na rua, a luta continua. Der Kampf geht weiter!“ Weiter geht der Kampf auch deshalb, weil viele gegen die aktuelle Situation demonstrieren und auf ihren Transparenten einen neuen 25. April fordern, einige davon sind vermummt.
Aus der Menge der „Juventude Comunista Portuguesa“
springt ein Freund Teresas heraus, um kurz mit uns zu plaudern. Darüber, wie wichtig es ist, zu demonstrieren, weil Portugal doch immer noch nicht begriffen habe, was Freiheit sei. „Ist denn vielleicht das, was der Staat da gerade veranstaltet, Freiheit? Sich von den Interessen der Marktwirtschaft versklaven zu lassen und uns dafür immer mehr einzuschränken, immer mehr zu kontrollieren? Para mím, isso é pidesta!“ Für mich ist das „pidesta“, überwachend, ein Wort, angelehnt an den Namen der Geheimpolizei P.I.D.E, die während der Diktatur für die Spitzeldienste verantwortlich zeichnete. Und Teresa steigt mit ein in die Diskussion.
Vielleicht ist es ignorant, aber ich will jetzt nicht diskutieren. Ich will jetzt nicht fragen, ob die Revolution ihre Ziele erreicht hat oder nicht. Denn während der Umzug an mir vorüberzieht, sehe ich vor meinem inneren Auge die Bilder aus dem Jahre 1974, die ich aus Fotobänden kenne: wie jubelnde Menschen den Soldaten Nelken in die Gewehrläufe steckten. Rote Nelken, die einerseits den Triumph der Arbeiterbewegung, vor allen Dingen aber den Frieden symbolisierten – weil diese Revolution so unblutig verlaufen war, dass sie nicht mehr als fünf Tote gekostet hatte. Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie Menschentrauben auf Panzern sitzen, die Hand zum Victory-Zeichen erhoben, vor Glück strahlend. Ich sehe, wie die Türen der P.I.D.E-Gefängnisse sich öffnen und Paare, die seit Jahren getrennt waren, einander weinend in die Arme fallen. Ich nehme meine Nelke, halte sie hoch und rufe: „25 d’Abril sempre, fascismonunca mais!“ Denn ich will diesen Tag nicht diskutieren, sondern feiern. Weil er ein großer historischer Moment war und noch immer ist. Und weil die Revolução dos cravos für mich eine der schönsten Revolutionen ist, die die Geschichte je geschrieben hat.
✽✽✽
Das Rad der Geschichte dreht sich noch weiter zurück – ich werde zum Neandertaler. Zum Ante-Neandertaler, zum Prä-Neandertaler oder auch zum Proto-Neandertaler, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Inês sich frisch verliebt hat, in Pedro, einen Archäologen. Und da Pedro demnächst einen Workshop anbietet, der veranschaulichen soll, wie im Neolithikum gekocht wurde, haben Inês und ich die Ehre, seine Probestudenten zu sein. Die Vorkoster gewissermaßen, die insgeheim mit dem Schlimmsten rechnen: etwa damit, ein Menü aus rohem Wildschwein samt Fell essen zu müssen, gewälzt in Walfett und garniert mit gerösteten Insektenpanzern.
Schon heute Morgen sind wir losgefahren in Richtung des nahe gelegenen Städtchens Sesimbra, genauer gen Serra da Arrábida, einem Naturpark am Meer, in dem auch die Serra do Risco beheimatet ist. Ein Gebirgszug, der wie eine gefrorene oder versteinerte Welle ins Meer rollt. Die Aussicht vom höchsten Punkt dieser Welle ist fantastisch, schwindelerregend und einzigartig. Tief unter uns liegt das Meer, gesäumt von weißen Sandstränden und Kalkfelsen – und um uns herum sehen wir die dunklen Wälder der Serra da Arrábida.
Nicht nur auf ihrem Rücken, sondern auch in ihrem Innern birgt die Serra do Risco Besonderes. Ein kleines archäologisches Geheimnis, in das Pedro uns nun einweihenwill: Dafür hangeln wir uns an Seilen entlang, stellenweise rutschig und gefährlich, den Abgrund und das Meer immer unter uns, bis wir schließlich zur Lapa da Cova gelangen, einer Höhle, die bereits von den Phöniziern genutzt wurde. Pedro erzählt, dass die Archäologen hier Keramikreste gefunden haben, die auf die frühe Eisenzeit verweisen. Etwa dreißig Meter tief mag sie sein, die Grotte, der Eingang vielleicht fünfzehn Meter breit. „Der Boden ist so uneben, dass der Raum ganz bestimmt nicht zum Wohnen genutzt worden ist“, meint Pedro. „Viel eher diente er für rituelle Praktiken, möglicherweise sogar als Begräbnisstätte.“
Weitere Kostenlose Bücher