Ein Jahr in Lissabon
besichtigen, dann müsse ich dringend auch José Saramagos Buch über den Bau des Palastes lesen, am besten natürlich auf Portugiesisch, denn sein Stil sei eigentlich unübersetzbar, Évora ist einfach hinreißend, überhaupt der gesamte Alentejo, ob ich denn schon in Sintra gewesen sei, ebenfalls sehr schön, eine völlig andere Welt, vielleicht ein bisschen zu sehr Disneyland für manchen Geschmack, sehr zu empfehlen für einen Tagesausflug sei aber auch Ericeira, wunderhübsch, da könne er mir übrigens die Galerie eines Freundes ans Herz legen, ganz nahe des Touristenbüros, also eigentlich genau … hier.
Mit der präzisen Schrift des Technischen Zeichners entsteht auf der Rückseite des Konzert-Programmzettels eine Landkarte mit schwarzen Punkten und Empfehlungen aller Art, sehenswerte Orte im Norden, sehenswerte Orte im Süden, und drumherum werden Buchtitel, Adressen, Daten portugiesischer Geschichte und Namen portugiesischer Könige platziert und … und da es nun schon spät ist und ich eigentlich vor Müdigkeit umfalle, bietet mir O Senhor Silva an, mich nach Hause zu bringen. Wobei er mir verheimlicht, dass sein Auto quasi am anderen Ende der Stadt geparkt ist, sodass sich ganz beiläufig noch die Gelegenheit für eine kleine nächtliche Stadtführung bietet. Ob ich das Haus mit den schönsten Azulejos Lissabons schon gesehen habe? Nein? Ein Muss – und es liegt fast auf dem Weg, nur einen kleinen Schlenker müssen wir gehen. Hier befindet sich übrigens einer der wichtigsten Orte der Nelkenrevolution am 25. April 1974, was für eine schlimme Zeit das dochgewesen ist unter Salazar, eine fürchterliche, er sei Mitglied in der „Associação 25. de Abril“, denn es sei wichtig, die Erinnerung an die Revolution immer wachzuhalten. Schrecklich auch, wie teuer die Geschäfte hier sind, unglaublich, der Mont-Blanc-Laden, meine Güte, 3500 Euro für einen einzigen Füller, da lobe er sich doch Gänsekiel und Tintenfass. Überhaupt, wie kostspielig das Leben geworden ist. Er habe die Miete in Lissabon irgendwann auch nicht mehr bezahlen können und sei vor einigen Jahren in einen Vorort gezogen, nach Louros, ja, das sei schwer gewesen für einen Alfacinha wie ihn, noch dazu, nachdem er seit seiner Kindheit im selben Haus gewohnt habe. Seine Frau leide ebenfalls darunter – und sogar seine Tochter, die doch schon längst ihre eigene Familie habe und nicht mehr bei ihnen wohne, vermisse bisweilen ihr früheres Zuhause. Aber was soll man machen?
Zwei Stunden später – und circa vier Stunden nach Ende des Konzerts – setzt O Senhor Silva mich in seinem Volkswagen – ja, „exactamente, um carro alemão!“, das sei doch wohl ein eindeutiger Beweis dafür, dass er nichts gegen die Deutschen habe – punktgenau vor der Haustür ab, sehr besorgt darum, dass ich auch die letzten Meter bis zu meinem Domizil wohlbehalten zurücklege. Und während ich die Haustür aufschließe, halte ich plötzlich inne und es fällt mir wie Schuppen von den Ohren: Pfingsten! Pfingsten hat stattgefunden! O Senhor Silva hat mir mein lang ersehntes Wunder beschert! Vier Stunden lang hat er ununterbrochen Portugiesisch geredet – und ich konnte alles verstehen!
In dieser Nacht geschieht etwas Besonderes: Ich träume zum ersten Mal auf Portugiesisch.
Abril
I N MEINEN T RAUM, DER VON P ORTUGAL GETRAGEN WIRD, DRINGT L ÄRM – mitten in der Nacht wache ich auf. Das ist nichts Besonderes, das passiert mir hier öfters. Entweder, weil Bob Marley mich weckt. Oder, weil in meinem ruhigen, kleinen Sträßchen in Graça jede Nacht um halb zwei der Müllwagen kommt. Daran habe ich mich längst gewöhnt, ich drehe mich auf die andere Seite und schlafe weiter. Dieses Mal aber ist es anders, es ist nicht das Geräusch des Müllwagens, sondern Geschrei, das von der Straße zu mir nach oben schallt. Betrunkene streiten sich, denke ich im Halbschlaf. Doch der Lärm hört nicht auf und mischt sich irgendwann mit Sirenengeheul. Ich wanke ans Fenster und bin schlagartig wach: Im Haus gegenüber brennt es. Dichte Rauchwolken dringen aus den Fenstern der dritten Etage, im Stockwerk darüber rennt eine Frau panisch schreiend den Balkon auf und ab.
Die Feuerwehr ist bereits gerufen, mehrere Löschzüge versuchen, an das Haus zu gelangen – doch da die enge Straße wie immer komplett zugeparkt ist, ist zeitraubende Millimeterarbeit gefragt. Dann endlich hat der erste Wagen das Haus erreicht, und zwei Feuerwehrmänner verschaffen sich, geschützt
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