Ein Jahr in Lissabon
den vergangenen Monaten auch schon rausgefahren aus der Stadt, habe mich – weil die portugiesischen Straßen besser ausgebaut sind als die portugiesischen Schienennetze – in die Überlandbusse der „Rede Expressos“oder der „Rodoviaria do Tejo“ gesetzt und bin losgefahren. Ich habe Évora gesehen, die weiß-gelbe Stadt im Alentejo, die so lieblich wirkt,dass keiner in ihrem Stadtzentrum eine Kapelle vermuten würde, die einzig und allein aus Knochen gestaltet ist. Ich bin durch Óbidos spaziert und habe mich in den verwinkelten Gässchen verloren, mir im Museum die Gemälde von Josefa de Óbidos angesehen und einen Ginja, einen Kirschlikör, im Schokoladenbecher getrunken. In Ericeira bin ich am Meer entlanggeschlendert, habe die Galerie von O Senhor Silvas Freund besucht und auf der Rückfahrt die nicht enden wollenden Saalfluchten des Palastes von Mafra durchschritten. Die Blüte portugiesischer Geschichte habe ich in Batalha studiert und in Hunderten Varianten die durchbrochene manuelinische Ornamentik des Klosters fotografiert. Mit Aveiro habe ich das sogenannte portugiesische Venedig kennengelernt, und in Porto habe ich stundenlang auf der Brücke gestanden, weil ich mich von dem Blick auf die Stadt nicht trennen konnte. Das Flattern der Fledermäuse in der atemberaubend schönen barocken Universitätsbibliothek sowie einen Fado der Studenten habe ich in Coimbra gehört. Und in Carrapateira habe ich den Duft der Esteva-Pflanzen samt Meeresluft eingeatmet, habe meinen Fuß in die kalten und wilden Wellen des Atlantiks gestreckt – und ihn schnell wieder herausgezogen, um stattdessen den köstlichsten Thunfisch der Welt essen zu gehen.
Sosehr ich meine Reisen und Ausflüge genieße – am allerschönsten ist jedes Mal die Rückkehr: weil es sich anfühlt, als würde ich nach Hause kommen. Wenn der Bus am Jardim Zoológico in den Terminal einbiegt, ist mir alles vertraut. Wenn ich die blaue Metrolinie bis Santa Apolónia nehme und dort in den 735 er einsteige, kenne ich die Gesichter der anderen Wartenden. Wenn ich an der Rua do Washington aussteige, ist ganz klar, dass ich noch kurz bei Victor vorbeischaue, der mich mit den Worten „Caramba, a aventureira está de volta! – Die Abenteuerin kommt zurück!“begrüßt. Und wenn ich die Wohnungstür aufschließe, streift Bob Marley mir um die Beine und Marta streckt den Kopf aus der Küche: „Du kommst genau richtig für ein Süppchen.“ Wenn ich nach diesen Reisen zurückkehre, ist es ganz eindeutig: Lissabon ist Heimat geworden.
Lissabon ist Heimat geworden, weil ich zur Familie gehöre – nicht nur zu der, bei der ich wohne. Ich habe viele Familien in dieser Stadt, und nur von wenigen kenne ich die Namen. Denn so, wie sich hier überall ein Dorf gründen lässt, lässt sich auch jederzeit aus dem Nichts heraus eine Familie gebären. Es genügt ein Lächeln, eine Begegnung. Ich gehöre etwa zur Familie jenes Busfahrers, der immer wartet, wenn er mich kommen sieht, sodass ich dem Bus nun wirklich nicht mehr hinterherrennen muss. Oder zur Familie der Kellnerin in meinem Mittagstisch-Café, die weiß, dass ich zum Essen nichts trinke, aber nach der Mahlzeit natürlich einen Kaffee brauche. Ja, auch die ein oder andere Kassiererin im Supermarkt hat mich in ihren Kreis aufgenommen, weil sie sich gemerkt hat, dass ich diese eigensinnige Estrangeira bin, die partout keine Tüte haben will.
Familien lassen sich in Lissabon aber auch mit Menschen gründen, die man noch nie zuvor gesehen hat. Zum Beispiel, wenn man am Neujahrstag mitten auf der Straße von einer wildfremden Frau umarmt wird und die besten Wünsche für das kommende Jahr erhält. Oder wenn man an Ostern – also jetzt – an der Bushaltestelle sitzt und plaudert. Mit der älteren Dame in Beige, die auf den 794 er wartet. Wir unterhalten uns über das Wetter, über das Leben – und auch über den Osterkuchen, der, sorgsam in Packpapier gewickelt, auf dem Schoß der Dame ruht. Ich erfahre, dass dieser Osterkuchen ein typischer ist und köstlich schmeckt. Nicht süß,wie sich vielleicht annehmen ließe, sondern salzig. Was daran liege, dass kleine Speck- und Wurststückchen imTeig versteckt seien. Folar de Páscoa oder auch Folar de Chaves werde er genannt, und eigentlich sei es sinnlos, über diesen Kuchen zu reden, denn eigentlich, so findet die alte Dame, müsse ich ihn probieren. Deshalb entblättert sie nun Schicht für Schicht das Packpapier, bricht den Kuchen einmal in der Mitte durch
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