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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Roth
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und schenkt mir eine gesamte Hälfte, ehe sie in den 794 er steigt. Einfach so. Ich winke der Frau hinterher, freudig und gerührt darüber, dass ich für ein paar Minuten von ihr adoptiert, für ein paar Minuten in ihre Familie aufgenommen wurde. Ich koste – noch an der Bushaltestelle – ein Stückchen von dem unglaublich leckeren Folar de Chaves und kann auch im Bus nicht aufhören, mit vollen Backen zu kauen. Ich lasse, Bissen für Bissen, das Gespräch mit der alten Dame nachklingen und begreife dabei erneut, was ich schon längst weiß: dass es genau solche Begegnungen sind, deretwegen ich so gerne in Lissabon lebe. Dass es genau solche Begegnungen sind, deretwegen ich diese Stadt Heimat nenne.

Maio
    H EUTE IST D ONNERSTAG , und heute ist kein Tag wie jeder andere. Heute schließt Victor seinen Laden zwei Stunden früher als gewohnt, hängt das Schild „Fechado“ an die Tür und schärft Cão noch einmal ein, dass er schön brav sein soll. Heute verlasse auch ich die Arbeit bereits um 18 statt um 19 Uhr, stopfe mir ein paar Salgados in den Mund und gehe Richtung Baixa-Chiado, um dort die Metro zu nehmen. Heute ist kein Tag wie jeder andere, denn heute gehen Victor und ich zum Fußball.
    Den Fußball in Lissabon habe ich bisher auf zwei verschiedene Arten kennengelernt. Zum einen durch die kleinen Jungs, die in den schmalen Gassen und auf den lauschigen Plätzen, ja möglichst überall dort, wo es irgendwie geht, ihren Ball auspacken und loslegen. Wenn ein Junge alleine ist, knallt er das Ei einfach in verschiedenen Variationen an die Kirchenwand: Ziel anvisieren, Anlauf nehmen, schießen. Wenn es mehrere sind, wird ein Torwart eingesetzt – der besser ist als die Kirchenwand, weil er die Abwehr mit mehr Leidenschaft bringt. Weil er hochspringt, mit akrobatischer Präzision fängt, fällt, wieder aufsteht, den Ball zurückschießt, die Hose hochzieht, die Nase auch – und dann bereit ist für den nächsten brillanten Coup. Wenn nicht genügend Platz ist für ein Tor und einen Torhüter, lässt es sich auch einfach stundenlang hin- und herbolzen und dabei ab und zu mit tiefer gelegter Stimme „Eh pá!“ rufen, was auf Portugiesisch alles Mögliche heißen kann, in diesem Fall aber so viel wie „Boah, ey!“ In jener Art des Fußballs sind die Jungs Meister, die ich im Bairro Altomanchmal sehe, wenn ich abends von der Arbeit nach Hause gehe, und die so lange spielen, bis es dunkel wird und es nur noch ihre Schatten sind, die um den nächsten Ballkontakt kämpfen. Ich weiß, dass das alle kleinen Jungs auf der Welt so machen, sobald sich ein runder Gegenstand ihrem Fuß nähert. Aber mir scheint, dass es nirgends so viel Charme besitzt wie in den verwinkelten Gassen von Lissabon.
    Zum anderen habe ich hier eine meditative Variante des Fußballs erlebt, die ich „o futebol sonâmbulo“ getauft habe. Sie spielt sich im Café ab, denn in jedem Café befindet sich ein Fernsehgerät, und wenn es so etwas Wichtiges wie Fußball zu sehen gibt, dann drehen alle ihre Stühle gen Mekka, also gen Televisão, und schauen zu – eine Szenerie, die wie eine Vorlesung oder wie ein Gottesdienst wirkt, auf jeden Fall andächtig. Bisweilen ist ein Kommentar zu hören, eine kurze Verständigung über den schlechten Schiedsrichter, eine wegwerfende Geste in Richtung des tollpatschigen Stürmers oder ein „Sssssss“, weil der Ball haarscharf an der Latte vorbeigeschrammt ist. Wesentlich mehr aber nicht. Ich hatte diese stille und kontemplative Rezeption des Fußballs betrachtet und daran gedacht, wie mir vor einigen Jahren in Berlin ein Stuhl um den Kopf geflogen war, als ich während des Finalspiels Italien – Deutschland als unbeteiligte Passantin an einer Kneipe vorbeiging. Und dann fühlte ich mich in meinem Ehrgeiz angestachelt: Caramba! Es musste doch möglich sein, einmal einen Portugiesen außer sich zu erleben! Und deshalb, so schien es mir, musste ich einmal während meines Lissaboner Aufenthalts ins Stadion.
    Eigentlich hatte ich mir gewünscht, ein Spiel zwischen Sporting und Benfica zu sehen, doch das hatte Victor mir verboten. SCP Sporting und SL Benfica sind die beiden Mannschaften, die in Lissabon beheimatet sind, die beideein eigenes Stadion, einen eigenen Trainer und unzählige Fans besitzen. Die Fans von Benfica sind der Meinung, dass ihre Mannschaft, die mehr als hundert Jahre auf dem Buckel trägt, die beste ist, weil sie historisches Gewicht hat. Die Fans von Sporting halten dagegen, dass ihre

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