Ein Jahr in Lissabon
é simpatico!“, schreit Victor. – „Não é, não é“, pflichte ich ihm schnell bei, denn der Schiedsrichter ist Deutscher. Die Diskussionen sind eröffnet, jeder fühlt sich berufen, wild gestikulierend gen Spielfeld zu debattieren – vergeblich. Elfmeter. Zittern. Ukraine schießt und „Aaaaah!“ – Glück gehabt. Torwart Rui Patricio hat gehalten.
In der Pause steht es 0 : 0 , und Victor ist kurz davor, das Stadion zu verlassen. „Que merda! Que merda!“ ist alles, was er noch zu sagen hat. Wie ernst die Lage ist, kann ich auch daran merken, dass er damit droht, wieder zu Benfica überzuwechseln. Es sieht gefährlich danach aus, dass der Abend in einer Katastrophe endet.
Zweite Halbzeit. Über dem Stadion ist es dunkel geworden und die Flutlichter strömen über das Spielfeld. Trainer Sá Pinto hat seine Jungs wohl zur Brust genommen, dasSpieltempo zieht an. Klatschchöre und „Sporting!“-Rufe. Da, 51. Spielminute, Capel nähert sich dem gegnerischen Tor, „Vamos, vamos! Los!“, schreit Victor, und tatsächlich, Marat Izmailov, die Nummer 7, übernimmt und – „Golooo! Golooo! Goloooo!“ Ein Stadion wird aus den Sitzen gerissen, ein Stadion kocht, ein Stadion triumphiert. 1 : 0 ! Viva o Sporting! Der Knoten ist geplatzt, endlich haben die Grün-Weißen die Kontrolle über den Ball, endlich kommt Bewegung ins Spiel. Die Ukrainer werden nervös, behelfen sich mit ziellosem Aktionismus, wechseln Spieler aus. Dann ein böses Foul vonseiten der Metalics – Elfmeter für die Sportings, vielleicht ist der deutsche Schiedsrichter doch nicht so schlecht. „Hau rein die Kirsche!“, rufe ich und kriege vor Aufregung Schluckauf. „Embora, embora!“, schreit Victor und dann: „Carambaaaaa!“ 2 : 0 für Sporting! Es lebe Insúa, der Torschütze! La-Ola-Wellen wogen durch das Stadion, nur unterbrochen von dem in sich versunkenen ukrainischen Fanblock. Ich überlege kurz, ob ich aus Mitleid vielleicht doch heimlich für die Ukrainer fiebern soll, aber das erledigt sich schnell, denn die Sporting-Fans gehen zum großen Crescendo über, und da muss ich dabei sein. Klatschklatsch, klatschklatschklatsch, klatschklatschklatschklatsch, klatschklatsch – „Sporting!“ Die Sportingistas brennen, die Sportingistas vibrieren, die Sportingistas sind ein Körper geworden. 74. Spielminute, dritte Chance – aaah, knapp daneben! „Morgen kauf ich mir eine Dauerkarte!“, schreie ich Victor ins Ohr. 81. Spielminute, aaaaah, noch mal knapp daneben! Zwei gefährliche Angriffe der Ukrainer, zwei Mal erfolgreich abgewehrt. „Cinco estrelas!“, Victor ist entzückt. 87. Minute, verpasste Chance, 88. Minute, verpasste Chance, 89. Minute: verdammte Hacke! Der Schiedsrichter gibt Elfmeter für die Ukrainer, es ist einfach kein Verlass auf die Deutschen. Auf den Torwart auch nicht, Patricio kann nicht halten, dasEi geht rein, Punkt für die Ukraine. Die Sportingistas bangen, vier Minuten Verlängerung. Die ukrainischen Fans kehren ins Leben zurück, es wird noch einmal ausgewechselt, noch einmal alles gegeben – doch, Abpfiiiiiff! Die Sportings sind im Viertelfinale des UEFA-Cup. Carambaaaaaa!
Als wir das Stadion verlassen, scheint der Mond. Und ich weiß: Er tut es nur für Sporting.
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Sportings Triumph und meine neu entdeckte Begeisterung für den Fußball noch im Körper, widme ich mich am darauffolgenden Tag einer Leidenschaft, die mich schon lange begleitet: dem Kino. „Portugiesische Filme sind immer viel zu lang und furchtbar melancholisch. Und danach willst du dich am liebsten umbringen“, behauptet meine Kollegin Joana, während wir über die schwarz-weiß gepflasterten Ornamente der Avenida da Liberdade Richtung Cinemateca spazieren. Ganz unrecht hat Joana mit ihrem Verdikt nicht, aber sie ist manchmal nicht ganz objektiv. Denn Joana ist Brasilianerin – und kann Portugal nicht ausstehen. „Ich warte nur noch, bis mein Freund auch mit dem Studium fertig ist, und dann gehen wir so schnell wie möglich zurück nach Brasilien.“ Das war einer der ersten Sätze, die ich von Joana hörte, als ich mich vor vielen Monaten erstmals mit ihr unterhalten hatte. Zuerst dachte ich, dass Joana, die seit zwei Jahren in Lissabon lebt, einfach Heimweh hat. Weil sie mir so oft von ihrer Sehnsucht nach der Quirligkeit Brasiliens erzählte, von ihrer Sehnsucht nach den leckeren Früchten, die in Rio an jeder Straßenecke verkauft werden, mal mundgerecht filetiert, mal frisch gepresst als Saft. Irgendwann
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