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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Roth
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aber merkte ich, dass es nicht nur das Heimweh ist, sondern mehr.
    „Wusstest du“, fragte sie mich, als wir im Palast wieder einmal den verstopften Abfluss auf der Toilette reinigen mussten, „was wir in Brasilien sagen, wenn eine Arbeit schlecht gemacht ist? Wir sagen: É portugues. Das ist portugiesisch.“ Und plötzlich schien es mir, als blitze irgendwo hinter diesen Zeilen ein Stück Vergangenheit hervor, ein Stück portugiesische Kolonialgeschichte. Ich sprach Joana darauf an und fragte sie, ob das für ihre Generation noch ein Thema sei. „Na ja …“, überlegte sie, ehe sie antwortete. „Die meisten Brasilianer – egal welchen Alters – denken nicht darüber nach, aber es lässt sich doch nicht leugnen, dass die Portugiesen jahrhundertelang auf unsere Kosten gelebt haben. Es gibt Wissenschaftler, die vertreten die Theorie, dass Portugal wirtschaftlich nie ganz hochgekommen ist, weil sich der Beginn der Industriellen Revolution hier durch die Kolonien verzögert hat – klar, die waren es jahrhundertelang gewohnt, sich von den Sklaven versorgen zu lassen.“ Joana erzählt mir auch, dass die aktuelle Wirtschaftskrise vieles im Verhältnis zwischen Portugal und Brasilien verändert hat. „Jahrzehntelang sind die Brasilianer nach Portugal gegangen, um Arbeit zu finden – jetzt ist es umgekehrt. Das können die Portugiesen nicht ertragen.“ Unzählige Vorurteile existieren, denen Joana täglich begegnen muss. „Was glaubst du, wie oft ich mir anhören muss, wir würden ja sowieso nur den ganzen Tag Samba tanzen und Caipirinha trinken? Das Härteste war, als mir ein Taxifahrer mal gesagt hat, ich soll doch zurück in mein ‚Scheiß-Land‘.“ Joana rächt sich auf ihre Weise: mit einem großen Repertoire an Witzen über die Portugiesen. Und sie legt außerdem viel Wert darauf, auch hier in Lissabon ihr brasilianisches Portugiesisch zu sprechen. Weswegen ich manchmal das Gefühl habe, nicht nur eine, sondern zwei Sprachen lernen zu müssen, denn die Unterschiede zwischen beidenIdiomen sind groß und reichen, weit über den Akzent hinaus, bis ins Vokabular und in die Grammatik hinein.
    Erst, als ich anfing darauf zu achten, merkte ich, wie präsent die koloniale Vergangenheit Portugals auch im Lissabon des 21. Jahrhunderts noch ist – nicht nur aufgrund der Brasilianer, die hier leben, sondern viel stärker noch aufgrund der Afrikaner. Schwarze Sklaven – aus Guinea, Kap Verde, Angola oder Mosambik – waren seit dem 15. Jahrhundert, seit der Eroberung Ceutas 1415, nach Portugal verschleppt worden. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde an einer ausbeuterischen Politik festgehalten, wurden jegliche Emanzipationsbestrebungen der Kolonien niedergeschlagen – besonders brutal unter Salazar. Erst mit dem Ende der Diktatur erlangten alle Kolonien ihre Unabhängigkeit. Aber auch danach besaßen viele portugiesische Familien noch eine farbige Hausangestellte, so, als würde das koloniale Recht weiterhin regieren. Bis heute sind diese Hierarchien nicht überwunden, viele Afrikaner hier verrichten minderwertige, schlecht bezahlte Jobs, arbeiten als Müllmänner, Putzfrauen und Küchenhilfen. Und es erscheint mir fast schon zynisch, dass noch immer die Straßen eines ganzen Viertels, des Bairro das Colónias, die Namen der ehemaligen Kolonien tragen.
    Die meisten Afrikaner leben entweder in den Satelliten-Vororten Lissabons oder in den ärmeren Vierteln der Stadt, zum Beispiel in Intendente nahe der Mouraria. Viele von ihnen sind Obdachlose. Obdachlose, die laut sind, die auffallen – weil sie ihre Wut nicht schlucken, sondern sie anbrüllen gegen die Gesellschaft, die sie durch den Rost hat fallen lassen. Da ist zum Beispiel jener Afrikaner, den ich häufig nahe von „Martim Moniz“ sehe, der schreiend und mit heruntergezogener Hose auf die Straße läuft und sich mitten auf die Fahrbahn legt – so lange, bis die Autofahrerdie Polizei rufen. Und da gibt es einen, den ich immer am „Miradouro de Santa Catarina“ treffe. Unentwegt ist er damit beschäftigt, Zigarettenstummel aufzusammeln, die die Touristen dort hinterlassen – und zu schimpfen. Konvulsivisch bricht es aus ihm heraus, die Stimme heiser, der magere Körper immer in Bewegung. Er analysiert und verflucht die Welt, hetzt gegen die Politiker aller Zeiten, von Clinton bis Gaddafi. Und vor allen Dingen gegen Portugal. Portugal sei „uma merda“, eine einzige Scheiße. „Vergonha! Schande!“ Alle seien Rassisten! Jedes Mal, wenn ich

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