Ein Jahr in Lissabon
beachtliche fünf Kilometer geschafft, stellen wir fest, dass es Mittagszeit ist und wir eigentlich schon Hunger haben. Auf der Höhe des Torre de Belém, wo sich die Touristen fürs Fotomotiv scharen und ein peruanischer Panflötist meint, er müsse die Welt mit „El Condor Pasa“ beglücken, suchen wir uns in den Grünanlagen ein schattiges Plätzchen unterm Eukalyptusbaum. Ich fische die zwei trockenen Käsebrote, die ich mir am Morgen schnell geschmiert habe, sowie drei einsame Erdbeeren aus meinem Rucksack und will mich gerade auf den Rasen werfen, als meine portugiesischen Freunde mir zeigen, wie Picknick geht:
Eine karierte Decke wird ausgebreitet, so groß, dass wir alle auf ihr Platz finden. Und nicht nur wir. Auch das Essen. Inês und Pedro haben einen selbstgemachten Couscous-Salat samt Tellern und Gabeln mitgebracht – für alle, versteht sich. Beatriz und Bruno steuern mit Rührei belegte Brötchen, Bananen, Äpfel und Saft sowie kleine, mit Zimt bepuderte Schoko-Mandel-Eier bei. Köstlich und für alle, versteht sich. Luisa und Hugo zaubern Pastéis de Bacalhau, Pastéis de Legumes, gebratene Stückchen vom Huhn, Orangenkuchen, Pappbecher und ein Fläschchen Wein aus ihren Satteltaschen. Für eine ganze Armee, versteht sich. Ich schaue auf meine notdürftig in Küchenpapier eingewickelten Käsebrote, auf denen die von der Fahrt zermatschten Erdbeeren rote Flecken hinterlassen haben, und möchte vor Scham im Boden versinken.
Stattdessen wird getafelt und geplaudert, geplaudert und getafelt. Mir scheint, dass ich noch nie ein so schönes undentspanntes Picknick erlebt habe, und ich beginne mich zu fragen, ob es möglicherweise ein historischer Irrtum ist, dass das Dolce Vita von den Italienern erfunden wurde. Es müssen, da bin ich fast sicher, die Portugiesen gewesen sein, genauer gesagt: die Portugiesen, mit denen ich hier gerade sitze. Ewig soll er dauern, dieser Moment, und deshalb bannen wir ihn in ein Erinnerungsfoto – einmal mit, einmal ohne Fahrräder – wobei wir mehrere Anläufe nehmen müssen, bis Hugo schneller als sein Selbstauslöser ist. Und weil der Ort sich so stimmungsvoll zeigt, mit dem glitzernden Tejo und dem Torre de Belém im Hintergrund, beginnen meine sechs portugiesischen Begleiter, die ersten Sätze aus Camões’ „Lusíadas“ zu rezitieren, die sie alle in der Schule gelernt haben. Im Sprechchor. Für mich, die gerührt und mit hingebungsvoll schmelzenden Schoko-Mandel-Eiern in den Händen, lauscht. „As armas e os barões assinalados, / Que da ocidental praia Lusitana,/ Por mares nunca de antes navegados, / Passaram ainda além da Taprobana …“ – „Die kriegerischen, kühnen Heldenscharen, / Vom Weststrand Lusitaniens ausgesandt,/ Die auf den Meeren, nie zuvor befahren,/ Sogar passierten Taprobanas Strand …“
In Cascais sind wir nie angekommen. Aber es war ein herrlich fauler Ausflug. Am nächsten Tag hat Hugo mir die schönsten Erinnerungsfotos dieser Welt gemailt. Und die ersten Sätze von Camões’„Lusíadas“ sowie die Entdeckung, dass Dolce Vita aus Portugal stammt, werden mir für immer ins Gedächtnis eingeschrieben sein.
Junho
E S RIECHT NACH F ISCH – IN DER GANZEN S TADT . Und ich stehe mittendrin und verkaufe ihn. Alles nur für ihn, für António.
António ist der Stadtheilige von Lissabon. Vor langer Zeit, im beginnenden 13. Jahrhundert, hatte er sich entschlossen, seiner adligen Familie den Rücken zu kehren und dem Orden des São Vicente da Fora beizutreten, jenem Orden, dessen zugehörige Kirche noch heute strahlend weiß, mit zwei stattlichen Türmen versehen, zwischen der Alfama und Graça aufragt. Dort hatte er sich zum Priester ausbilden lassen, von dort war er in die Welt, nach Marokko, gezogen, um Menschen zu seinem Glauben zu bekehren, war nach Italien gegangen, wo er seine Redekunst so charismatisch perfektionierte, dass ihm sogar die Fische zugehört haben sollen. Bis er irgendwann mit noch nicht einmal vierzig Jahren in Padua starb.
Jede Stadt in Portugal hat ihren Stadtheiligen, und deshalb feiert jede Stadt in Portugal einmal im Jahr ein Fest zu Ehren dieses Patrons. Außer António huldigt Lissabon auch noch João und Pedro und hat deshalb die Möglichkeit, quasi den ganzen Juni zum Fest zu erklären und sich einmal durch jedes Viertel hindurchzufeiern. Doch am wildesten geht es am 12. und 13. Juni zu, wenn Antónios Stunde schlägt und aus der Stadt ein einziger großer Partyraum wird. Überall werden gegrillte
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