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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Roth
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zum Campo gehe, höre ich dieselbe Tirade, als sei er gefangen in seinem Text. In seinem Hass steckt eine Wucht, die erschreckend ist. Ein Hass auf eine verlorene Vergangenheit, ein Hass auf eine gescheiterte Immigration. Immer ist er auf dem Sprung, als würde er von einer endlos verzehrenden Rastlosigkeit getrieben – mein Versuch, mich mit ihm zu unterhalten, um etwas über seine Lebensgeschichte zu erfahren, ist mir nicht geglückt.
    Nur einmal habe ich ihn zur Ruhe kommen sehen: Da hatte er eine Chipstüte aus dem Müll geklaubt und die Krümel auf dem Boden verteilt. Als sich eine ganze Schar Tauben um die Brosamen gesammelt hatte, hat er sich mitten in sie hineingelegt, hat die Vögel gestreichelt – und ist darüber ganz still geworden.
    All diese Bilder vor Augen, gehe ich heute Abend also mit Joana in die Cinemateca, um mir einen Film anzuschauen, der Portugals koloniale Vergangenheit thematisiert. Schon zu Anfangszeiten, als ich es war, die sich bisweilen innerlich obdachlos in einer fremden Umgebung fühlte, war die Cinemateca zu einer meiner vielen Heimaten in Lissabon geworden, mein zweites Wohnzimmer. Fantastische alte Filme werden hier gezeigt, großartige Retrospektiven verschiedenster Regisseure oder Themen, und das alles für einDrittel des Eintrittspreises eines kommerziellen Kinos. Kurz: Ich liebe es, in den weichen Sesseln zu versinken und nach der Arbeit für zwei Stunden in eine andere Welt zu reisen. Alle Filme sind in Originalsprache mit portugiesischen Untertiteln – das ist nicht nur in der Cinemateca, sondern auch im kommerziellen Kino und sogar im Fernsehen so. In Portugal wird nicht synchronisiert.
    Viele ausländische Filme habe ich hier gesehen, aber auch portugiesische. Marco Martins großartigen „Alice“, der mit der verzweifelten Suche eines Vaters nach seiner entführten Tochter ein trostloses, unendlich trauriges Bild von Lissabon zeigt. Die ungeschnittene Version von Miguel Mendes’ „José e Pilar“ – fünf Stunden, einen ganzen Samstagnachmittag lang, folgte ich José Saramago und seiner Frau auf ihren Pfaden. Oder Hugo Vieira da Silvas „Swans“, die triste Erzählung eines in Portugal aufgewachsenen deutschen Teens, der mit siebzehn Jahren erstmals seine Mutter kennenlernt – als sie in einem Berliner Krankenhaus nicht mehr aus ihrem Koma erwacht.
    Heute Abend nun erleben wir Miguel Gomes’ Film „Tabu“. Die Geschichte einer alten Portugiesin, Aurora genannt, die bis zur Unabhängigkeit 1974 in Kap Verde lebt, auf einer großzügigen Plantage, umgeben von vielen schwarzen Dienern, ein paar Krokodilen, ihrem Ehemann und ihrem Geliebten. Denn Aurora schätzt das Abenteuer, sowohl in der Savanne als auch in der Liebe geht sie gerne auf die Jagd – und schert sich weder um Moral noch um Politik. Während der Kolonialkrieg zu toben beginnt, vergnügt sie sich mit ihren Freunden im Swimmingpool. Wie ein Schwarz-Weiß-Fotoalbum ist die Geschichte erzählt, auch die Zeit danach, die Zeit, in der das „Paradies“ verloren ist und das Leben der alten Aurora gezeigt wird: wie sie in einem hässlichen Hochhaus eines Lissaboner Vororts ihrDasein fristet, das letzte Geld im Casino von Estoril verspielt – und sich dabei noch immer von ihrer afrikanischen Hausangestellten versorgen lässt.
    „Ein starker Film“, da sind wir uns einig, Joana und ich, als wir zwei Stunden später die Cinemateca verlassen. Und dann, als wir uns zum Abschied Küsschen links, Küsschen rechts geben, ist es Joana noch ein Bedürfnis, sich bei mir zu entschuldigen, weil sie so oft über Portugal schimpft. „Ich vergesse immer, wie gut es dir in Lissabon gefällt. Die Stadt ist ja auch ganz schön, irgendwie. Aber im Gegensatz zu Rio … Also, wenn ich wieder zurück in Brasilien bin, musst du mich unbedingt mal besuchen, está bem?“– „Combinado!“, lache ich, irgendwie berührt von ihrem unerschütterlichen Patriotismus. „Abgemacht!“
    ✽✽✽
    „Combinado!“, hatte ich auch leichtfertig gesagt, als Inês und Pedro mich vor zwei Wochen gefragt hatten, ob ich mit ihnen und ein paar Freunden auf eine kleine sonntägliche Radtour mitkommen will. Jetzt, als es so weit ist, scheint mir meine Zusage kühn: Zum ersten Mal fahre ich Fahrrad in Lissabon – und das heißt, dass ich zum ersten Mal seit meiner Abreise aus Deutschland vor neun Monaten überhaupt wieder auf einem Drahtesel unterwegs bin. Noch dazu auf einem, den ich geliehen habe, von Joana. Bin ich überhaupt noch in

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