Ein Jahr in Lissabon
der Lage, das Gleichgewicht zu halten? In dieser hügeligen Stadt, in der es keine Radwege gibt, weil niemand Fahrrad fährt? In den ersten drei Wochen nach meiner Ankunft in Lissabon, immer dann, wenn ich grollend auf die Eléctrico gewartet hatte, hatte ich mein Fahrrad und die damit verbundene Mobilität vermisst. Dann gewöhnte ich mich nach und nach daran, mit öffentlichenVerkehrsmitteln unterwegs zu sein. Und irgendwann gefiel es mir, durch die Straßen chauffiert zu werden, die Stadt durchs Fenster zu betrachten, den Mitfahrern beim Telefonieren zuzuhören oder zu träumen und nichts anderes tun zu müssen, als an der richtigen Haltestelle auszusteigen.
Heute bin ich also selbst die Motorista, die Fahrerin. Sicherheitshalber habe ich die Reifen noch einmal aufgepumpt und die Bremsen getestet – es kann losgehen! Bis zu Victors Laden schiebe ich, dann biege ich links in die Rua do Washington ein und steige auf: Schön langsam, Stück für Stück den Berg hinunterrollen lassen, doch es beschleunigt ganz von alleine, das störrische Rad, es will heizen, die Felgen hauen so herzhaft ins Kopfsteinpflaster, dass die Schutzbleche in heller Panik aufschreien und Rodeo angesagt ist – egal! Augen zu und durch, geschmeidig reinlegen in die Rechtskurve, aber der Bus aus der Gegenrichtung hat denselben Gedanken und wie soll ich ihm ausweichen, wenn sich parkende Autos dicht wie eine Perlenkette entlang dem Bürgersteig aufgefädelt haben? Jetzt scharf links – täusche ich mich oder steigt von den Reifen ein Geruch nach verbranntem Gummi auf? Nur knapp schramme ich an den Fußgängern auf dem Zebrastreifen vorbei, Caramba, seit ich in Portugal die Langsamkeit entdecke, ist jegliches Reaktionsvermögen flöten gegangen! Was soll’s, rechts einfädeln Richtung Bahnhof Santa Apolónia, wo die vorüberrauschenden Autos mich dickbäuchig in das hineindrücken, was man hierzulande Fahrradweg nennt, den Rinnstein also, durch dessen schmalspurige Kanüle ich mich nun tapfer und mit eingezogenen Schultern vorwärts balanciere – kurz: als ich nach zehn Minuten am Terreiro do Paço ankomme, bin ich schon erledigt. Doch da Inês und Pedro mir mit unerschütterlich guter Laune ihre Freunde vorstellen – Luisa und Beatriz, beides Tierärztinnen, Hugo,ein Informatiker, und Bruno, der bei den Lissaboner Stromwerken arbeitet, nebenbei aber noch in Elektrotechnik promoviert –, die allesamt vor Energie strotzen, während ihre Fahrräder mit prall gefüllten Satteltaschen im Sonnenlicht blitzen, packt nun auch mich die Abenteuerlust. Wir haben viel vor, wollen bis Cascais radeln, knapp dreißig Kilometer, immer am Fluss entlang. Also: „Vamos!“
Nach meinem rasanten Einstieg fährt es sich nun, auf der großzügig planierten Promenade des Tejo, komfortabel und bedächtig. Die ersten 500 Meter von Terreiro do Paço bis Cais do Sodré veranstalten wir ein Klingelkonzert, um allen Alfazinhas kundzutun, dass wir heute eine Radtour machen – und, damit ich mir besser merken kann, dass Klingel auf Portugiesisch „campainha“ heißt. Danach versuchen wir, die Fernando-Pessoa-Texte, die auf den Asphalt geschrieben sind, zu lesen, ohne abzusteigen und ohne umzufallen. „O Tejo é mais belo que o rio que corre pela minha aldeia,/ Mas o Tejo não é mais belo que o rio que corre pela minha aldeia, / Porque o Tejo não é o rio que corre pela minha aldeia.“ „Der Tejo ist schöner als der Fluss, der durch mein Dorf fließt, / Aber der Tejo ist nicht schöner als der Fluss, der durch mein Dorf fließt, / Denn der Tejo ist nicht der Fluss, der durch mein Dorf fließt.“ Wir müssen dafür ein bisschen langsamer fahren, weil wir den Text rückwärts lesen müssen, aber wir fahren überhaupt sehr langsam. Unter der Brücke Ponte 25 de Abril, die aussieht wie die Golden Gate, weil Diktator Salazar 1966 ein bisschen Glamour nach Lissabon holen wollte, geben wir ein zweites Klingelkonzert,um den Autos,die über uns hinwegrauschen, zu zeigen, was eine Harke ist. Wir schauen auf den Tejo, der wiederum auf uns schaut, finden, dass Fahrradfahren etwas Wunderbares ist, und lassen deshalb unsere campainhas noch einmal rasseln – so lange, bis sie heiser sind. AmDenkmal „Padrão dos Decobrimentos“, an dem Heinrich der Seefahrer, flankiert von anderen Entdeckern, gen Meer blickt, bleiben wir stehen und diskutieren, ob das einfach nur ein hässliches Monument des Estado Novo ist oder einen Erinnerungswert hat. Und kurz danach, wir haben
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