Ein Jahr in London
Völkergemisch, als man es in den meisten deutschen Städten innerhalb eines Jahres zu Gesicht bekommen würde. Und dies sind keine Touristen, sondern normale Londoner auf dem Weg zur Arbeit. Selbst die Werbung, die in Augenhöhe an den Wänden entlangläuft, ist in verschiedenen Sprachen verfasst. Rotgelockte, schwarzgekräuselte, blondgesträhnte Haare, Urdu, Polnisch, Portugiesisch, alles vermischt sich zu einem wunderbaren Wirrwarr von Kulturen, den es sonst nirgendwo auf der Welt noch einmal in solcher Vielfalt gibt.
Ich lehne mich zurück und lausche den verschiedenen Sprachen, die es an diesem Morgen in meinem Abteil zu hören gibt. Natürlich sind auch einige englische Stimmen dabei. Immer wieder hört man von der Distanz der Engländer, die sich angeblich besonders in ihrem scheuen Verhalten in der U-Bahn bemerkbar macht. In der Tat gibt es auch an diesem Morgen einige noch halbschlafende Passagiere, die zu so einer frühen Stunde ähnlich wie ich kaum zu einer Konversation im Stande sind. Aber viel mehr als das Nicht-miteinander-Redenin der U-Bahn überrascht mich immer wieder die Ungeniertheit so vieler Londoner, die inmitten von dreißig anderen Fahrgästen die intimsten Details ihres Lebens preisgeben. Im gleichen Abteil wie ich sitzen heute zwei Frauen, um die vierzig, ihrer Bekleidung nach zu urteilen auf dem Weg zur Arbeit im Büro, die sich von gegenüberliegenden Sitzen genaue Beschreibungen ihrer Darmerkrankungen zurufen.
„Und wenn ich dann doch Weizen esse, reagiert mein Darm schrecklich allergisch darauf. Ich bekomme Verstopfung und kann tagelang nicht aufs Klo, bis ich denke, ich zerplatze bald.“
„Ach wirklich? Bei mir drückt es sich eher durch schlimmen Durchfall aus. Das ganze letzte Wochenende habe ich auf dem Klo sitzend verbracht, ein ganzes Buch habe ich dabei durchgelesen.“
„Ich werde nächsten Monat eine Dickdarmspülung durchführen lassen. Man kann sich ja gar nicht vorstellen, was sich da alles ansammelt.“
„Ah, und wie wird das ausgeführt?“
„Also zuerst wird ein Schlauch ...“ Die Frau erklärt ihrer Kollegin alles im Detail.
„Sehr interessant. Sehr interessant. Du musst mir unbedingt erzählen, wie das war.“
In Camden steige ich aus, um dort auf die Northern Line Richtung Finchley umzusteigen, doch nachdem ich mich durch ein paar Korridore gedrängt habe, geht es nicht weiter. Was ist denn jetzt schon wieder los? Unterbrechungen und Verspätungen sind in der Tube so alltäglich, dass die meisten Londoner kaum mit der Wimper zucken, wenn der Fahrer mal wieder eine zwanzigminütige Wartezeit in einem Tunnel wegen Signalproblemen ankündigt. Nach den Selbstmordattentaten im Juli 2005 wurde bekannt, dass der Mann, der letztendlich einen Bus in Russel Square in die Luft sprengte, eigentlich vorgehabt hatte, auf der Northern Line Richtung Norden zu fahren. Doch was passierte? Der Dienst auf der Northern Line war mal wieder zusammengebrochen und somit wurde Hampstead, oderwelche Station auch immer der Attentäter an diesem Morgen im Ziel gehabt hatte, verschont.
Auch an diesem Morgen gibt es keinen einzigen Zug Richtung Norden. Und der Grund sind diesmal weder Signalprobleme noch Terroranschläge oder ein Stromausfall: Die Züge fahren nicht „wegen Laubfalles“! So steht es jedenfalls auf dem Schild, das den Weg zu dem Bahnsteig versperrt. Ich marschiere auf den ersten Bahnbeamten zu und fordere ihn auf mir zu erklären, warum um alles in der Welt denn nun ein alltägliches Ereignis wie Laubfall meine U-Bahn-Strecke zur Arbeit beeinträchtigen könnte.
„Nun, my love “, und mein Ärger wird allein durch diese nette Ansprache schon wieder ein bisschen gedämpft, „Sie wissen ja, dass die Tube auf dieser Strecke auch überirdisch fährt, und wegen des starken Laubfalles in den letzten Tagen sind die Gleise außer Betrieb gesetzt.“
„Aber das Laub fällt jedes Jahr, hätte man sich da nicht darauf vorbereiten können?“
Auf diese Frage lacht der Beamte wissend, als rede er mit einer Dilettantin, die von solch komplizierten Vorgängen wie Blätterfall aber auch wirklich gar nichts verstehen könnte.
„Wir sind auf das Meiste vorbereitet, aber bei so viel Laubfall in einem solch kurzen Zeitraum wie in diesem Jahr kann man einfach nichts machen. Wegen des starken Windes in den letzten Tagen ist ein größeres Volumen an Laub gefallen als wir es sonst gewohnt sind. Tut mir leid. Die Busse fahren aber. Sorry .“
Ich folge also den Schildern
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