Ein Jahr in London
Richtung Ausgang und nach einem Blick auf meine Uhr entschließe ich mich, in die Schnellspur überzuwechseln. In der U-Bahn – ebenso wie an vielen anderen öffentlichen Plätzen wie zum Beispiel auf Rolltreppen, in Geschäften oder in Schulkorridoren – gilt die „links: schnell; rechts: langsam“-Regelung, die es den besonders Eiligen ermöglicht, an den mehr gemütlich gesonnenen Menschen vorbeizuspurten. Selbst auf der Oxford Street, Londons berühmter Einkaufsstraße, sollen demnächst zwei Bahnen auf demBürgersteig für verschiedene Gehgeschwindigkeiten eingeführt werden.
Ich renne also die Rolltreppe hinauf, stecke meine Fahrkarte in die automatische Schranke und jogge dann weiter Richtung Bushaltestelle. Nächster Bus nach Finchley: in vierzig Minuten.
Als ich anderthalb Stunden, nachdem ich das Haus verlassen habe, endlich an der Schule ankomme, hat der Unterricht schon längst begonnen.
Miss Miller, der ich in der Pause meine Verspätung erkläre, nickt entgegen meiner Befürchtungen voller Verständnis.
„Ja, dieser Laubfall jedes Jahr ist schon ein großes Problem. Man sollte eine größere Baumsperre in der Nähe von Gleisen einführen.“
Ich stimme ihr zu, um ihre gute Stimmung nicht zu verderben, und überlege, warum der Herbst in anderen Ländern nicht diese Probleme mit sich bringt. Und denke darüber nach, welche Alternative es in Zukunft für mich geben könne.
Der Bus – und die damit verbundene Demütigung, mit den Kindern zusammen fahren zu müssen – scheidet schon mal aus, und die wenigen Fahrradfahrer, die ich bisher in London getroffen habe, haben alle ohne Ausnahme schon mehrmals Bekanntschaft mit Autoblech gemacht. Da bleibt also nur eins: Ich brauche mein eigenes Auto.
Das Problem: Zwar habe ich einen Führerschein, aber leider keinerlei Fahrpraxis. Vom Linksfahren gar nicht zu reden.
„Du machst halt erst mal ein paar Fahrstunden mit mir. Und wenn du dich etwas sicherer fühlst, schaust du dich nach deinem eigenen Auto um.“
Nun ist Elli natürlich keine Fahrlehrerin, aber in England kann jeder Erwachsene, der einen Führerschein besitzt, Stunden geben – solange er einen großen roten Aufkleber mit dem Buchstaben „L“ für „learner“ an der Rückscheibe anbringt, um andere Verkehrsteilnehmer vor etwaigen Risiken zu warnen.
An einem Sonntagmorgen in aller Frühe machen wir uns also auf zu meiner ersten Übungsfahrt. Dazu fährt uns Elli eine Stunde aus London hinaus in die Grafschaft Hertforshire, wo die Straßen ruhiger und die Autofahrer freundlicher sind. An einer kleinen Landstraße halten wir an und ich wechsle auf den rechten Platz.
„So, dann fahr uns mal wieder zurück nach London!“
Elli sieht an diesem Morgen noch blasser aus als sonst, aber ich werde sie schon bald überzeugen, dass es keinen Grund zur Sorge gibt. Ich fahre mutig an, stelle aber unzählige Male den Scheibenwischer an, als ich mit der rechten Hand vergeblich nach der Gangschaltung suche. Ansonsten läuft alles hervorragend. Für ungefähr fünf Minuten.
Dann fangen sich die Autos hinter mir an zu stauen und wir fahren in eine kleine Stadt ein.
„Du bist viel zu weit auf der linken Seite!“, ruft Elli alle paar Meter, aber die Distanzen sind nun wirklich nicht leicht einzuschätzen, wenn man auf der falschen Seite sitzt. Das Linksfahren ist aber noch das kleinste Übel. Was ich wirklich gewöhnungsbedürftig finde, ist die Tatsache, dass es statt unserer Rechts-vor-links-Regel keineswegs eine Links-vor-rechts-Regelung gibt. Davon bin ich immer ausgegangen, bis ich unter lautem Gehupe meine erste Kreuzung überquerte.
„Spinnst du eigentlich?“ Elli klammert sich mit beiden Händen an den Türgriff und ist jetzt so weiß wie ein Gespenst.
„Hatte ich denn keine Vorfahrt?“ Ich bin mir keines Vergehens bewusst.
„Hast du denn den Strich auf der Fahrbahn nicht gesehen?“ Einen Strich auf der Fahrbahn? Erst jetzt lerne ich, dass die Vorfahrt mit Markierungen auf der Straße geregelt wird: Ein Strich bedeutet Vorfahrt gewähren, kein Strich bedeutet, dass man Vorfahrt hat oder die Behörden den Strich vergessen haben. Im Zweifelsfalle immer das Letztere.
Und so halte ich von nun an den meisten Kreuzungen, bis mich die anderen Fahrer mit einem freundlichen Lächelnweiterleiten. Zum Glück scheint es in keinem anderen Land so viele geduldige Autofahrer wie in England zu geben. Immer wieder wird mir aus Nettigkeit Vorfahrt gewährt, immer wieder bedanken sich Autofahrer
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