Ein Jahr in London
Hippie-Look um die fünfzig, dessen fein geflochtener Pferdezopf fast bis zum Boden reicht. Sobald die erste Band zu spielen beginnt, fängt er mit weit ausholenden Armbewegungen an, hoch in die Luft zu springen, und wir müssen uns auf ein paar Hockern an der Wand in Sicherheit bringen.
Mehrere Bands kommen und gehen, dann betritt die vorletzte Gruppe die schmale Bühne. Als ich mir die Musiker anschaue, glaube ich, meinen Augen nicht trauen zu können. Ich zucke zusammen und schaue mich nach Karmen um. Denn wer spielt Bass? Niemand anderes als Jake. Mir bleibt fast das Herz stehen.
„Karmen, können wir gehen?“, frage ich sie etwas abrupt, doch die ist alles andere als in Heimgeh-Stimmung. Sie ist gerade in ein Gespräch mit einem Hugh-Grant-Verschnitt vertieft, der sie bewundernd anlächelt und nicht so aussieht, als wolle er sich so schnell verabschieden.
Als ich endlich ihre Aufmerksamkeit erhasche, stellt sie mich ihrem neuen Bekannten vor.
„Und das hier ist übrigens Richard. Richard wohnt in Notting Hill!“
„Hallo Richard!“ Richard würdigt mich kaum eines Blickes und redet weiter auf Karmen ein. Was soll ich nur tun?
„Karmen, können wir bitte bald gehen?“, frage ich noch einmal, und sie nickt, aber setzt ihr Gespräch angeregt fort. Schon kündigt die Band ihr letztes Lied an und die Musiker werden sich bald unter die Zuschauer mischen.
„ Bitte , Karmen, es ist dringend!“, flehe ich sie an, aber Karmen scheint in love zu sein und tut so, als hätte sie meine Bitte nicht gehört.
Ich stehe also zitternd neben den beiden und warte auf das Unumgängliche. Gleich wird Jake wahrscheinlich auch noch mit seiner Freundin zusammen an mir vorbei zum Ausgang gehen und mich mitleidsvoll anlächeln, während ich hier alleine und unglückselig herumstehe. Wenn ich wenigstens einen Gesprächspartner hätte! Ich versuche verzweifelt, an Karmens und Richards Unterhaltung teilzunehmen, aber die beiden flüstern sich irgendwelche Nettigkeiten ins Ohr und haben keinerlei Interesse an der Außenwelt.
Jake steht mittlerweile an der Bar, unterhält sich mit mehreren Leuten und bahnt sich dann einen Weg zur Ausgangstür. Genau neben welcher natürlich ich sitze. Ich starre konzentriert in die andere Richtung, nippe an meinem Glas Wein und schiele in Richtung Bar. Von der Schwarzhaarigen jedenfalls gibt es keine Spur. Dann ruft plötzlich jemand hinter mir meinen Namen.
„Das ist aber eine Überraschung! Ich habe dich schon seit Wochen nicht gesehen. Ist Elli auch hier?“
Es ist Ellis netter Kollege Liam, und ich bin ihm unendlich dankbar, gerade in diesem Moment hier aufzutauchen.
„Ist was? Du siehst etwas besorgt aus.“
„Ich bin nur ein bisschen müde.“
Liam erzählt mir ausführlich vom Popquiz des Vortags, das ich leider verpasst habe, und geht sämtliche Fragen und Antworten durch.
„Und weißt du, welche Gruppe den allerlängsten Songtitel aller Zeiten hatte? Well ?“
Ich schüttele ungeduldig den Kopf, während ich alle paar Sekunden nach Jake Ausschau halte. Er redet mit einigen Freunden, die in unmittelbarer Nähe zu mir stehen.
„Und die nächste Frage erst! An welchem Tag wurde Liam Gallagher geboren?! Wer soll das denn wissen?!“
„21. September. Gar kein Problem!“, sage ich stolz.
„Ah, du Besserwisser! Nächsten Dienstag musst du wieder mitkommen. Aber wann hat der frühere Schlagzeuger von Oasis Geburtstag? Ich wette, das weißt auch du nicht!“
Eine halbe Stunde später nutze ich eine kurze Gesprächspause, um mich wieder nach Jake umzuschauen. Aber der ist wie vom Erdboden verschluckt. Mein Blick schweift von einer Ecke des Raumes zur anderen, aber er ist nirgendwo zu sehen. Liam verabschiedet sich und ich wende mich wieder Karmen und ihrem neuen Beau zu, die mich weiterhin ignorieren.
Dann eine Stimme hinter mir.
„Ich wollte euch beide nicht unterbrechen, aber jetzt, wo du alleine bist ...“
„Jake!“ Ich versuche, so gelassen wie möglich zu tun, kann aber ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Noch schlimmer, als jetzt wieder mit ihm reden zu müssen, wäre es, wenn er einfach ohne ein Wort verschwunden wäre. Ich gratuliere ihm zu dem gelungenen Konzert, erzähle ihm von meinem Besuch in Buckingham Palace, davon, dass ich meine Kündigung eingereicht habe und bald umziehen möchte, und wir reden und reden.
Dann läutet einer der Kellner die Last-Order-Glocke.
„Drink up please, everyone!“
„Können wir uns am Wochenende treffen?“, fragt
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