Ein Jahr in London
Vermögen für unsere eigenen Bilder zu zahlen.
„So, und wohin jetzt?“
„In den nächstbesten Pub“, möchte ich am liebsten sagen, aber Karmen besteht auf einem Besuch in der Tate Modern. Früher ein Kraftwerk, ist in dem massigen Gebäude, das ein wenig weiter den Fluss aufwärts liegt, jetzt eines der größten Museen für moderne Kunst untergebracht. Karmen verschnellert ihren Schritt.
„Da müssen wir mindestens ein paar Stunden drin verbringen! Und morgen noch einmal wiederkommen!“
Mir rutscht das Herz in die Hose. Nicht nur, weil mein Magen knurrt und ich mich nach einer großen Portion Pommes sehne, sondern auch, weil ich diesen Monat schon zwei andere Besucher zur Tate begleitet und mehrere Stunden darin verbracht habe. Bald werde ich jedes einzelne Kunstwerk mit Entstehungsjahr auswendig kennen.
Nach zweieinhalb Stunden in dem Museum teile ich Karmen mit, dass sie gerne noch weitergehen könne, ich jedoch draußen vor der Halle warten werde.
„Keine Sorge, lange bleibe ich auch nicht mehr. Wir sehen uns draußen!“, ruft sie fröhlich und verschwindet wieder in dem Labyrinth von Räumen und Fluren, während ich mich auf den Weg nach draußen mache.
Ich laufe viermal über die nahe gelegene Millennium Bridge, die dadurch bekannt wurde, dass sie zu schwanken begann, als das erste Mal Passanten darüberliefen, die aber nun nach teuren Reparaturen stabil ist, in Richtung St Pauls und wieder zurück und hoffe, dass Karmen jetzt endlich herauskommt,doch sie ist nirgends zu sehen. Dann klingelt mein Handy. Sie steht wahrscheinlich schon lange auf der anderen Seite des Museums und sucht nach mir.
„Alles klar? Versteht ihr euch gut?“ Es ist Stefan.
„Du hättest mir aber vorher sagen können, dass Karmen so eine Moderne-Kunst-Fanatikerin ist!“, beklage ich mich.
„Ist sie das? Das wusste ich selber auch nicht.“
„Sie ist jetzt schon vier Stunden lang in der Tate und ich langweile mich zu Tode.“
Stefan verspricht mir, von nun an nur noch Kunstbanausen vorbeizuschicken, die sich mit einer halbstündigen London-Eye-Fahrt zufriedengeben.
Am Abend ist Karmen völlig übermüdet und überwältigt von dem Unterhaltungsangebot, aus dem es auszuwählen gilt. Ich zeige ihr den Veranstaltungskalender für diese Woche und nach zweistündigem Durchblättern hat sie sechs Konzerte, fünf Theaterstücke, drei Vorlesungen und acht Filme gefunden, die sie sich unbedingt am heutigen Abend anschauen möchte. Aber nach ihrem Dauerbesuch in der Tate fallen ihr die Augen zu.
„Weißt du was, ich glaube, am allerliebsten würde ich heute einfach früh ins Bett gehen. Nur dass Programmangebot anzuschauen, macht mich schon müde“, sagt sie schließlich.
Wohnt man in einer Kleinstadt, in der vielleicht nur alle paar Monate ein gutes Konzert stattfindet, geht man natürlich ohne zu zögern zu diesem Konzert. Die Möglichkeit hat man ja so schnell nicht wieder. Wenn man aber in einer Stadt wie London wohnt, in der allabendlich rund fünfzig interessante Veranstaltungen stattfinden, dann kommt man in Versuchung, den Konzertbesuch auf die nächste oder übernächste Woche zu verschieben, denn es läuft einem ja nichts davon. Denn auch morgen wird es wieder Dutzende von interessanten Veranstaltungen geben.
Wegen der Kürze ihres Aufenthaltes dränge ich Karmen aber dazu, wenigstens einen kurzen Abstecher in das nur einigeMinuten entfernte Camden zu machen. Das Dublin Castle ist weder ein Schloss noch in Dublin, sondern einer von vielen Musikpubs in London, in denen vorne geredet und getrunken und hinten auf einer winzigen Bühne Musik gemacht wird. Coldplay, Blur und Madness haben alle in dem stickigen Hinterraum einige ihrer ersten Konzerte gespielt, und so kann man bei jedem Besuch darauf hoffen, die zukünftigen Helden der britischen Musikszene hier zuerst zu entdecken. Obwohl im Vorderraum aus der Jukebox laute Musik dröhnt, wird sie von den Stimmen der Besucher noch weit übertönt. Stammgäste begrüßen sich, Biergläser werden angestoßen, Mädchen kreischen und Männer schreien sich über die Köpfe der anderen hinweg an. Und aus dem Hinterraum hört man das Stimmen einer Gitarre. Wir schlängeln uns zum anderen Ende des Pubs durch, zahlen Eintritt und sind dann in einem schwülen, verqualmten Raum mit niedriger Decke, der schon jetzt gefüllt ist mit Jugendlichen, ein paar älteren Ehepaaren in Anzug und Kleid sowie Vertretern jeden Alters, jeder Klasse und Rasse. Neben uns steht ein Mann im
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