Ein Jahr in London
uns auf einem schon öfters geflickten Ledersofa bequem, die Wand neben uns ist gefüllt mit staubigen Büchern: Oscar Wilde, Charles Dickens, Jane Austen. Eigentlich viel schöner als ein elegantes Restaurant. Und dann erzählt Jake so charmant von seinem Leben als Kellner in demHampstead-Pub, von den Konzerten mit seiner Band und von seiner Familie und hört dann seinerseits meinen Geschichten mit so viel Interesse zu, dass ich ihm binnen kürzester Zeit vergeben habe und beschließe, dass Engländer nicht nur romantisch, sondern auch äußerst charmant und geistreich sind. Falls Jake nicht ein Sonderfall ist.
„Natürlich bin ich ein Sonderfall. So ein Glück wie deines, mich gleich am ersten Tag in London zu treffen, hat nun wirklich nicht jeder.“
Ich stimme ihm zu.
„Und das Bier habe ich natürlich extra über dich geschüttet, um eine gute Entschuldigung zu haben, dich kennenzulernen. Etwas Besseres fiel mir so schnell nicht ein.“
Die Zeit vergeht wie im Flug und wieder einmal klingelt der Kellner viel zu früh schon zu den Last Orders. Der Abend ist vorbei, um Mitternacht hat hier nichts mehr auf.
„Und jetzt zeig ich dir den Kebabladen, von dem ich dir vorhin erzählt habe“, sagt Jake, als wir auf die Straße treten. Es regnet in Strömen und ich habe keine große Lust auf einen nach Fett stinkenden Schnellimbiss, noch weniger Lust jedoch, mich schon zu verabschieden.
„Es wird dir gefallen, I promise! “
„O. k., wenn du darauf bestehst.“
Hundert Meter die Straße runter betreten wir also den Marathon, einen griechischen Imbiss, der beim Eintreten aussieht wie jede andere Pommesbude. Im Hinterraum jedoch, mit Landkarten Kretas und Plastikblumen geschmückt, spielen zwei alte Männer in schwarzem Anzug und Schlapphut Saxofon und um die fünfzig Leute essen, trinken und tanzen, als sei dies der angesagteste Club in ganz London.
„Ich bin hier schon hundert Mal vorbeigegangen, niemals ahnend, dass es wert wäre, mal reinzuschauen!“, sage ich erstaunt.
Wir bestellen Pommes und gefüllte Weinblätter und dazu eine Flasche Wein und sehen uns nach einem Platz um.
Es ist so voll, dass kein Tisch mehr frei ist, aber Bartosz, selbsternannter ungarischer Poet mit langen blonden Locken und verfaulten Zähnen, bittet uns, uns zu ihm zu setzen.
„Deine Arme sind so zart und weiß wie die Knochen der Rentiere zur Sommerzeit im Land der Lappen“, sagt er zu mir und schenkt sich dann von unserem Wein ein. Ich frage mich, ob das Poesie ist, dummes Gerede oder sogar sexuelle Belästigung. Jake scheint sich auch nicht ganz sicher und so rücken wir vorsichtshalber ein paar Stühle nach rechts. Dort werden wir von einem älteren Mann mit langen, strähnigen Haaren angesprochen, der auf einem Block vor sich das Chaos um uns herum zeichnet.
„Darf ich ein Portrait von euch machen? Ihr passt so gut zueinander und du“, er zeigt auf Jake, „du hast so ein ausdrucksvolles Gesicht!“ Ich weiß nicht, ob ich beleidigt sein soll, dass mein Gesicht keiner Erwähnung würdig ist, oder glücklich darüber, dass selbst Fremde meinen, wir passten gut zusammen, aber Jake hat schon zugesagt und der Mann misst uns mit seinem Bleistift und bringt die ersten Striche auf das Papier.
„Nicht bewegen, um Himmels willen!“, herrscht er mich an, als ich meinen Arm hebe, um ein Haar aus den Augen zu streichen.
„Mund geschlossen halten!“ Wir sitzen also eine Viertelstunde völlig still und regungslos, bis das Bild endlich fertig ist.
Er unterzeichnet es und steckt es mir dann zu.
„Ich bin schon mit Billie Holiday aufgetreten, glaub’s mir!“, erzählt mir stolz einer der beiden Saxofonisten, der sich in einer Spielpause etwas später zu uns gesellt, und seinem Alter nach zu urteilen ist das gut möglich. Begleitet werden die beiden Musiker heute Abend ungewollt von einem Iren, der mit viel Gefühl Volkslieder seiner Heimat vor sich hinsingt, ohne dabei aber die geringste Notiz von den Saxofonspielern zu nehmen.
„ Can you please shut up? “, fragt ihn Pat, einer der Musiker, höflich. „Du kannst singen, wenn wir fertig sind, aber jetzt halt erst mal die Klappe!“
Das tut er aber erst, als ihm nach einem weiteren Bier die Augen zufallen und sein Kopf sich auf den Tisch neigt.
Als das Marathon dann doch irgendwann schließt, wird es draußen schon hell und wir laufen bei Amselgesang durch die ruhigen Straßen von Primrose Hill zurück nach Hause.
„Wenn nicht bald etwas passiert, muss ich
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