Ein Jahr in London
nächsten Monat zurück nach Deutschland ziehen“, klage ich Felice am nächsten Morgen mein Leid, den Tränen nahe. Die Osterferien, und damit meine letzte Gehaltszahlung, liegen schon wieder Wochen zurück und ich habe weder eine neue Stelle gefunden noch, wie gehofft, im Lotto gewonnen. Aber wie immer kommt unvorhergesehene Hilfe.
„Ganz einfach, du hilfst mir halt für ein paar Wochen in meinem Kleiderladen aus, bis du was Besseres findest“, tröstet mich Felice, „jetzt, wo der Sommer kommt, bin ich so beschäftigt, dass ich eine Aushilfe gut gebrauchen kann.“
Ich werde also von nun an auf dem Camden Market arbeiten, was keine größere Umstellung in meinem Leben bedeutet, da ich sowieso jede freie Minute dort auf der Suche nach ausgefallenen Schnäppchen verbringe.
Der Camden Market ist eine Ansammlung von Marktständen mit ausgefallener Mode, chaotischen Second-Hand-Buchläden, vegetarischen Fast-Food-Ständen und Plattenläden. Von unserem Haus in Primrose Hill bin ich dank des Regents Canal, der die beiden Stadtteile verbindet, in wenigen Minuten dort. Der schmale Kanal, gerade groß genug für die kleinen, buntbemalten Hausboote, die überall an den Stegen anliegen, bildet einen Wasserweg von der Themse bis nach Paddington im Westen der Stadt, und von dort aus über den Grand Union Canal sogar weiter bis nach Birmingham. Auf meinem Weg zur Arbeit heute muss ich mich um die vielen Angler herumschlängeln, die im Schatten der Trauerweiden auf einen Fang warten, und aus der Ferne hört man sogar einen Löwen brüllen, denn der Londoner Zoo ist gleich um die Ecke.
Am Camden Lock, der Camdener Schleuse also, biege ich links auf den Markt ab und stehe dann schon vor Felices Geschäft, das anders als die vielen Marktstände auch unter der Woche geöffnet ist, wenn die Touristenströme etwas kleiner sind als am Wochenende.
Felice hat den Laden schon geöffnet, übergibt mir den Schlüssel und klopft mir zum Abschied auf die Schulter: „Und denk dran: Immer nett lächeln, wenn jemand hereinkommt. Klaro?“
Zwar verdiene ich nur vier Pfund fünfzig die Stunde, dafür kann ich aber auch die meiste Zeit des Tages meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen: aus dem Fenster gucken und Musik hören. Alle zehn Minuten vielleicht bediene ich einen Kunden und dann kann ich es mir wieder auf meinem Hocker gemütlich machen und die vorbeiströmenden Besucher beobachten. Neben den Touristen, die sich an den Wochenenden auf dem Markt herumtreiben, schaut auch das ein oder andere Camden-Original ab und zu vorbei.
So besucht uns mehrere Male pro Tag der Best of Luck Man , ein schick gekleideter Mann aus der Karibik, der ununterbrochen allen Menschen, denen er begegnet, das „allerbeste Glück“ wünscht. Auch heute bleibt sein Besuch nicht aus. Er steckt seinen Kopf um die Ecke, zückt seinen Hut und wünscht mir nachdrücklich: „Best of luck!“
„Ja, danke, Ihnen auch!“ Und schon ist er wieder draußen, um weiteren Leuten seine guten Wünsche zu überbringen. Niemals sagt er etwas anderes als diese drei Worte, und niemand weiß, wie er es sich leisten kann, den ganzen Tag einfach in der Gegend herumzulaufen und trotzdem noch genug Geld für feine Anzüge zu haben. Denn der Best of Luck Man ist ein echter Dandy mit Seidenschal und Manschettenknöpfen. Immer wieder nehme ich mir vor, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, um mehr über ihn herauszufinden, doch verschwindet er immer genauso schnell, wie er auftaucht.
Ebenso mysteriös ist der Mann, der sich selber zum King ofCamden ernannt hat und gleichfalls regelmäßig im Geschäft vorbeischaut. Das erste Mal, als ich ihm begegne, kommt er früh am Morgen geheimnisvoll in das Geschäft hereingeschlichen, schaut sich mehrere Male um, als müsste er sich vergewissern, dass kein auf ihn lauernder Spion sich in der Umkleidekabine versteckt, und flüstert mir dann hinter vorgehaltener Hand zu:
„Du musst mir gut zuhören!“
Ich lausche gespannt.
„Ich weiß, was dein Sternzeichen ist.“
„Aha?“, sage ich, etwas erschreckt.
„Ich wusste sofort, als ich dich zum ersten Mal sah, was dein Sternzeichen ist.“
„Und was ist es?“
„Zwilling.“ Ich zucke zusammen, denn das stimmt sogar.
„Ich bin der King of Camden , darf ich dich auf eine Tasse Earl Grey einladen?“
Ich weise ihn darauf hin, dass ich gerade arbeite und unmöglich den Laden alleine lassen kann.
„Was für eine Schande. Wir werden uns wiedersehen. Farewell !“
Bevor ich ihn
Weitere Kostenlose Bücher