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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Sieger
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überwuchert. Wir stiegen die Stufen hinauf und klingelten. Eine attraktive, große Frau in den Fünfzigern öffnete uns die Tür: Paula. Ihr leicht gewelltes Haar stand zu allen Seiten, sie hatte ein großes Holzfällerhemd und eine Jeans an, beides mit Farbklecksen übersät. „Entschuldigt mein Outfit, ich komme gerade aus meinem Atelier“, begrüßte sie uns. „Die Wohnung, in der das Zimmer frei ist, liegt unterm Dach. Das andere Mädchen, das dort wohnt, heißt Valerie.“ Paulas Haus war das genaue Gegenteil von Utes coolem, minimalistischen Loft. Es sah aus wie ein Puppenstübchen. Eine schmale Holztreppe führte vorbei an alten Schränken, antiquarischen Bildern, Teppichen, mit antiken Fundstücken eingerichteten Vitrinen und einem Klavierzimmer. Pauline öffnete die Tür zur Dachgeschosswohnung. Wir standen in einem riesigen Wohnzimmer mit Parkettboden und der gleichen Puppenhauseinrichtung wie im restlichen Haus. Im Badezimmer standen eine wunderschöne alte Wanne mit Zierfüßen und ein großes Keramikwaschbecken mit antiken Armaturen. Mein Zimmer lag direkt hinter einer gemütlichen Wohnküche mit Holztisch. Ich blickte aus dem Fenster, und die Entscheidung war gefallen. Wer wollte schon in einer kleinen Box ohne Fenster in Tribeca wohnen, wenn sich dies als Alternative bot: Aus dem Schlafzimmerfenster schaute ich direkt in einen wunderschönenGarten und in der Ferne am Horizont ragte die bekannteste Spitze New Yorks gut sichtbar in den Himmel: das Empire State Building. Das war mehr gefühltes New York, als ich in Manhattan jemals hätte haben können.

Januar
    „ F IVE, FOUR, THREE, TWO …!“ , schrie die komplette Partygesellschaft und brach in lauten Jubel aus, als der Countdown bei „one“ angelangt war. Noelle, Vanessa und ich lagen uns in den Armen, stießen mit Sekt an und feierten den Jahreswechsel. Eigentlich war alles perfekt, aber irgendetwas fehlte. – Das Feuerwerk! Meine erste Silvesterparty in New York, und ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich nicht nur meine Freunde, sondern auch die Knallerei, die im Hamburger Sankt Pauli schon Tage vorher die Nachbarschaft terrorisiert, vermissen würde. Wir standen in einem riesigen Loft in SoHo, und nachdem das Massen-Anstoßen beendet war, schienen die Leute umgehend vergessen zu haben, dass gerade ein neues Jahr begonnen hatte. Alles war „back to normal“. So, als ob gar nichts Besonderes geschehen wäre, fingen die einen wieder zu tanzen an, die anderen zu reden. Ich jedoch hatte das Bedürfnis, die Ankunft im neuen Jahr auszudehnen, diesen Augenblick gebührend zu zelebrieren. Mir erschien dieser Raum, auch wenn er groß war, einfach zu klein für einen Moment wie diesen. Ich wollte mit einer Flasche Sekt auf der Straße stehen, in den endlosen Himmel starren, leicht beschwipst das bunte, knallende Spektakel bewundern, euphorisch Freunde und Fremde in Reichweite umarmen und in guten Vorsätzen schwelgen.
    „Was sollen wir denn draußen. Da ist doch niemand, und außerdem ist es viel zu kalt“, sagte Vanessa, als ich lautüberlegte, ob man nicht mal kurz schauen sollte, was auf der Straße so los war.
    Und da war natürlich nichts los. Außer ein paar einsamen Taxis bewegte sich nichts. Ich vermutete, dass nicht die Kälte daran schuld war, sondern der Alkohol. Oder vielmehr die aufgezwungene Abstinenz vom Alkohol. Da das Trinken in der Öffentlichkeit in New York verboten ist, verbrachte niemand den Jahreswechsel trocken vor der Tür. Denn selbst die braunen Papiertüten, die jahrelang als Tarnung geduldet wurden, sind mittlerweile illegal.
    Ich hatte in den letzten Wochen oft ahnungslos, naiv und auch ein bisschen demonstrativ versucht, mich über dieses Gesetz hinwegzusetzen. Aber meine amerikanischen Freunde ließen sich nie darauf ein. „Lass uns erst die Drinks austrinken. Du weißt doch, dass es viel Geld kostet, wenn du draußen von einem Cop erwischt wirst“, lautete die Pauschalantwort. Selbst die Rauchergrüppchen, die sich vor jeder Party versammelten, hielten sich überraschenderweise strikt an die Regeln. Draußen kein Drink. Drinnen keine Zigarette.
    Letzteres gefiel mir allerdings ziemlich gut. Nach fünf Tagen Weihnachtsferien in verqualmten deutschen Restaurants und Bars war ich zum militanten Nichtraucher mutiert. Was ich früher schweigend hingenommen hatte, konnte ich nach drei rauchfreien Monaten nicht mehr ertragen. Meine Augen tränten, meine Haare und Klamotten stanken, und der Hustenreiz begleitete

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