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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Sieger
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manchmal etwas grobmotorisch in ihrem zarten Puppenhaus bewegten. Um die zusammengetragenen antiken Schätze und ihr liebevoll renoviertes Haus zu schützen, war Paula ausgiebig damit beschäftigt, unentwegtschriftliche Befehle zu erteilen. In unserer Küche stand zum Beispiel eine große Vitrine mit Vasen und alten Gefäßen. Daran klebte ein Zettel: „Bitte nicht berühren“. Ausstellungsstücke sozusagen. Als es das erste Mal schneite, lag, noch bevor überhaupt jemand hätte das Haus verlassen können, die Anweisung im Eingang, sofort die Schuhe auszuziehen. Paula hatte Angst, dass das eventuell unter der Sohle zurückgebliebene Streusalz die Holztreppe ruinieren könne. Wer die Mülltrennung ignorierte, wurde so lange hartnäckig mit Abmahnungsbriefen bedacht, bis jeder Fitzel Papier in der richtigen Tonne landete. Und die wurden regelmäßig kontrolliert, von Berni, nachts mit der Taschenlampe. Sowieso tabu war das Dach. Einmal hatte mich Paula erwischt, wie ich mit Noelle aus unserem Küchenfenster gekrabbelt und die Feuerwehrleiter hochgestiegen war, um von unserem Dach aus den spektakulären Blick auf Manhattan zu bewundern. Vor uns breitete sich romantisch die Skyline und die New Yorker Dachlandschaft aus. Runde Spitzdach-Wassertanks, so weit das Auge reichte. Noch am selben Abend lag ein unmissverständlicher Verbotszettel für die Zukunft auf der Treppe.

    Als ich das erste Mal unseren Küchenschrank öffnete, fand ich darin die Bestätigung für Paulas Bedenken gegenüber amerikanischer Wohnkultur. Statt Gläsern standen da einige ineinandergestapelte Plastikbecher. An Tellern entdeckte ich einen aus Glas, daneben eine Reihe aus Pappe. Das Besteck sah aus, als wäre es in Heimarbeit ausgestanzt worden, und es reichte gerade für zwei Personen. Ich hatte mich mittlerweile daran gewöhnt, dass die Amerikaner bei größeren Feiern oder Abendessen auf Pappteller und Plastikbesteck zurückgreifen. Meine hoffnungslosen Versuche, alle davon zu überzeugen, dass man so furchtbar vielunnötigen Müll produziert, versandeten jedes Mal im blanken Nichts. „Ja, ja, dann muss keiner spülen, ich verstehe schon, die Spülmaschine würde auch viel Energie verbrauchen, natürlich, aber ...“ Irgendwann gab ich auf. Schließlich war ich nur Gast.
    Hier jedoch stand ich in meiner eigenen Küche und hoffte sehr, dass bei mir keine Pappteller auf den Tisch kamen. Als Nächstes inspizierte ich den Kühlschrank und war erstaunt. In Valeries Etage stapelten sich Lebensmittel, ganz unten lag sogar ein komplettes nacktes Huhn im Gemüsefach. Es stellte sich heraus, dass Valerie fast jeden Tag kochte. Richtige Gerichte. Ihr Repertoire war beeindruckend. So zauberte sie an einem Tag Hähnchen in Weinsauce, am nächsten Tag Kassler im Bohneneintopf. Trotz ihrer Kochkünste war sie amateurmäßiger ausgestattet als ein deutscher Camper.

    Valerie war von Beruf Theaterschauspielerin und hatte diese weich-neutralen Gesichtszüge und einen blassen Teint, in die man jede Rolle hereinschminken konnte. Aufgewachsen war sie mit vielen Geschwistern und sehr katholischen Eltern in Massachusetts. „Die rotblonden Locken habe ich meiner irischen Abstammung zu verdanken“, erzählte sie mir, „und außerdem die Fähigkeit, jeden Kerl unter den Tisch trinken zu können“, fügte sie stolz hinzu. Da ihre Engagements am Theater nur schubweise eintrafen, verbrachte sie viel Zeit mit Yogakursen und verdiente ihr Geld mit Kellnern.
    Wir verstanden uns auf Anhieb. Gleich im ersten Gespräch stellte sie klar, dass sie ganz sicher nicht Bush gewählt hatte und auch nicht stolz auf ihr Land sei. Bush-Wähler waren in New York sowieso rare Exemplare. Ich war noch keinem begegnet. Aber Val war die Erste, die sich soganz unaufgefordert von dem Wort Patriotismus distanzierte. Selbst mit meinen Freundinnen Vanessa und Noelle hatte ich dazu schon etliche Diskussionen geführt, die nicht immer im Konsens endeten.
    Nach dem 11. September war der tief in der amerikanischen Seele verankerte Patriotismus in New York wie ein Vulkan ausgebrochen und hatte sich sichtbar über die ganze Stadt ergossen. Die Nationalflagge war allgegenwärtig. Menschen hatten sie sich ins Haar rasiert. Hunde trugen sie als Halstücher. Läden statteten ihre Schaufenster damit aus. Eine sehr befremdliche Begegnung mit offener Vaterlandsliebe. Bei uns paart sich Patriotismus ja leider meistens mit Rechtsradikalismus und Ignoranz. Allein das Wort klingt verdächtig. In Amerika

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