Ein Jahr in New York
Wachestehen. Vorm Fenster, während die Mädchen von der Feuerleiter pinkelten. Wohin? Auf die Straße. Und selbst da standen die Mädels Schlange. Deutsch, wie ich anscheinend war, entschied ich ganz pragmatisch, nachhause zu fahren.
Mein neues Zuhause war für mich noch immer eine Sensation. Silvester lag längst weit in der Vergangenheit, und ich hatte mittlerweile wieder angefangen zu arbeiten. Trotzdem fühlte ich mich in meinem eigenen Apartment noch immer wie im Urlaub. Ich wachte morgens auf, und der Blick auf das Empire State Building traf mich jedes Mal wieder mit voller Wucht. Wenn ich nachts nachhause kam, schaute ich als Erstes aus dem Küchenfenster zum Empire. Wenn die Spitze noch leuchtete, wusste ich, es war noch nicht Mitternacht. Jeden Abend bekam ich eine andere Farbkombination präsentiert. Manchmal hatte sie etwas zu bedeuten, manchmal nicht. Zur Weihnachtszeit sah man viel Grün und Rot. Zur US Open im September die Tennisballfarbe Gelb. An nationalen Feiertagen und wochenlang nach 9/11 strahlte es nachts in den Farben der amerikanischen Nationalflagge Rot, Weiß, Blau. Und zumStudiumsabschluss der „New York University“ leuchtet das Empire in der Uni-Kombi Lila-Weiß.
Es gab auch Abende, an denen das Licht plötzlich erlosch. Das war immer ein wenig unheimlich, und ich fragte mich, was nun schon wieder passiert war. In regelmäßigen Abständen alarmierte die amerikanische Regierung ihre Bürger noch immer mit der Gefahrenstufe „Code Orange“, und selbst Optimisten mussten zugeben, dass New York trotz oder gerade wegen des 11. Septembers ein wahrscheinliches Ziel für den nächsten Terroranschlag war. Es war nicht die Frage, ob, sondern wann sich die nächste Katastrophe ereignete. Gleichzeitig begannen die New Yorker gelassen abzustumpfen. Warnungen wurden nur noch mit zuckenden Schultern kommentiert. „Mach dir keine Gedanken“, sagte meine neue Mitbewohnerin Valerie, „es handelte sich meistens nur um harmlose Schweigeminuten. Einmal ging das Licht zum Beispiel aus, als Fay Wray, die Heroine des Filmes ‚King Kong‘, grad gestorben war.“
Wenn ich im Schlafzimmer stand, zuckten mir noch bis zum letzten Augenblick von der Aussichtsplattform die Kamerablitze der Touristen entgegen. Um Punkt zwölf verschwand das funkelnde Empire dann. Zurück blieb eine dunkle Silhouette am Nachthimmel.
Den Namen hat das Empire dem Spitznamen für den Staat New York zu verdanken. Nachdem der Art-déco-Bau 1931 mitten in der wirtschaftlichen Depression eröffnet wurde, war es mit seinen 449 Metern samt Antenne über vierzig Jahre lang das höchste Gebäude der Welt. Dann kam das World Trade Center und schubste es von Platz eins. Als die beiden Türme 2001 einstürzten, erlangte das Empire zwar nicht seinen Rang als höchstes Gebäude weltweit zurück, war aber wieder die unbestrittene Nummer Eins der New Yorker Skyline.
Meine neue Mitbewohnerin Valerie wurde, wie ich herausfand, wegen meines Einzuges gar nicht um ihre Meinung gefragt. Unsere „Landlady“ Paula hatte einfach entschieden, dass die Wohnung einen Europäer brauchte. Tendenziell misstraute sie den Amerikanern hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit als Mieter. „Den Leuten in New York ist Wohnen einfach egal. Hauptsache, sie haben ein Bett zum Schlafen, sonst verbringen sie sowieso kaum Zeit zuhause, deshalb fühlen sie sich für nichts verantwortlich“, erklärte mir Paula. Und da Valerie Amerikanerin war, kam ich mit meinen deutschen Tugenden wie Ordnung usw. gerade recht – als ausgleichendes Element. Paula gab mir zu verstehen, dass sie von einer Europäerin mehr Wohnkultur erwartete. Sich selbst als Holländerin schloss sie ein.
Paula war Künstlerin, und zwar nicht nur Malerin, sondern auch Lebenskünstlerin. Sie hatte eine kleine Galerie in einem Gartenhäuschen in der Einfahrt, vermutlich die kleinste in ganz New York, bemalte Autohauben, und wenn sie abends eine ihrer vielen mondänen Dinner-Partys gab, trug sie statt verkleckster Schlabberpullis schicke Klamotten und High Heels.
Vor vielen Jahren hatte sie zwei Häuser in Williamsburg gekauft, in denen sie nun jeden zur Verfügung stehenden Winkel vermietete. Manchmal sogar ihr eigenes Schlafzimmer. Dann zog sie mit ihrem Lebenspartner Berni temporär in das im Keller gelegene Atelier.
All diese Gäste und Untermieter zu koordinieren kam einer militärischen Operation gleich, und mir entging nicht, dass Paula nervös zusah, wie diese Menschen sich unschuldig, aber
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