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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Sieger
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mich bis zum Flughafen. Ich hatte im qualmfreien New York meine Zigaretten-Toleranz verloren.

    „Wenn dir ein Silvesterspektakel lieber gewesen wäre, hätten wir zum Times Square fahren müssen“, sagte Vanessa. „Wieso? Findet dort ein Feuerwerk statt?“, fragte ichunwissend. „Nein, dort wird der ‚New Year’s Eve Ball‘ runtergelassen“, antworte sie, als hätte ich im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst.
    Ein Ball? Eine Kristallkugel, um genauer zu sein. 1070 Pfund schwer, 1,8 Meter im Durchmesser, bestehend aus 504 Waterford-Kristall-Dreiecken, die mit Hilfe von 168 Glühbirnen außen und 432 Glühbirnen innen zu jedem Jahreswechsel etwa eine Million Menschen anstrahlen. Was daran so spektakulär ist, habe ich bis heute nicht kapiert. Das Runterlassen dieser Kugel signalisiert das Vergehen der Zeit, und es kam mir etwa so spannend vor, wie einer Sanduhr beim Rieseln zuzuschauen. Aber Amerikaner quetschen sich dafür schon nachmittags in die Menschenmenge am Times Square.
    Und hier bekam ich selbst an ganz gewöhnlichen Tagen Platzangst. Denn am Times Square ist es voll, laut, grell und stickig. Immer, Tag und Nacht. Die Touristen schubsen sich den Weg frei. Der Verkehr dröhnt. Die Fahrer am Steuer gehen sich mit ihrem Gehupe gegenseitig auf die Nerven. Die Leuchtreklamen an den Fassaden blinken so hysterisch, dass einem ganz schwindelig wird.
    Noch vor zwanzig Jahren war das ganz anders. Da lungerten hier nur Junkies und Prostituierte herum, und es gab kaum einen Touristen, der sich in das heruntergekommene Rotlichtviertel gewagt hätten. Dann räumte der damalige Bürgermeister Rudy Giuliani ordentlich auf, schuf ein politisches Erfolgsmodell und mittlerweile ist die Ecke mit ihren Theatern und Vergnügungsetablissements wieder ein großer Touristenmagnet. Und so sicher, dass einem kaum etwas Schlimmeres passieren kann, als von einem der vielen Hot-Dog-Verkäufer übers Ohr gehauen zu werden. Und damit die flimmernde Idylle ein Sightseeing-Highlight bleibt, sind die aufgeregt blinkenden Reklametafelnmittlerweile sogar Vorschrift. Alles, was nicht leuchtet, ist illegal. So werden die Touristen täglich von 5000 Anzeigen bedrängt.

    „Lass uns noch ’nen Champagner trinken“, schlug Vanessa mutig vor. Der Champagner, der eigentlich Sekt war, aber von den Amerikanern undifferenziert mit in die Kategorie Champagner gesteckt wurde, verschwand an diesem Abend mit einer Geschwindigkeit, die mich vergessen ließ, wie viel wir eigentlich schon getrunken hatten.
    In ihrem Verhalten merkte man es Vanessa zwar nicht an, dennoch war es unübersehbar. Denn ihre Wangen glühten rot, was hieß: Sie war betrunken. Wie bei vielen Asiaten hinterließ Alkohol bei Vanessa sofort seine Spuren. Ihre Gesichtsfarbe glich einem Promille-Barometer. Der Grund war ein Enzym, das den meisten Asiaten fehlt. Man nennt diese biologische Besonderheit „Asian Flush“. Vanessa bezeichnete sich selbst als „Cheap Date“, eine Anspielung auf die New Yorker Dating-Regeln. Da die Männer in New York grundsätzlich die Frauen einladen, würde das in Vanessas Fall bedeuten, dass der Mann äußerst günstig davonkäme. Ein Glas Wein, und Vanessa war bedient.
    Ich blickte in Richtung Toiletten. Eine sehr lange Schlange Mädels stand da vor einer einzigen Tür. „Ich müsste jetzt schon ziemlich dringend, und der Schlange nach zu urteilen, dauert es mindesten eine halbe Stunde“, lehnte ich vorsichtshalber ab. Noelle schaute mich an. „Dann tust du einfach so, als wenn du dich übergeben musst. Habe ich auch gerade gemacht. Hat funktioniert, keiner hat versucht mich aufzuhalten“, kicherte sie. „Das hast du wirklich getan?“, fragte ich fassungslos. Noelle mit ihrer resoluten Selbstverständlichkeit hätte auch behaupten können, dass sie mal kurz ins Bad muss, um ein Baby zu entbinden.Ziemlich wahrscheinlich hätte sich ihr niemand in den Weg gestellt. Außerdem trug sie heute Abend zu einem extrem engen schwarzen Kleid extrem hohe Absätze, die ihrer ohnehin physischen Überlegenheit eine gewisse Bedrohlichkeit verliehen. „Es muss nicht alles seine Ordnung haben. Sich durchzusetzen ist viel wichtiger“, behauptete sie kühn.
    Eine andere hoch geachtete Tugend in New York ist die Kunst, aus allem Geld zu machen. Die bulligen Türsteher in ihren schwarzen Anzügen zum Beispiel, die eigentlich hier waren, um für Recht und Ordnung zu sorgen, waren damit beschäftigt, den Mädels zwanzig Dollar abzuknöpfen. Wofür?

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