Ein Jahr in New York
dagegen ist man stolz auf sein Land, von Natur aus – und von Geburt an. Jeden Tag wird landesweit in den Grundschulen die Flagge gehisst, und die Klassen erheben sich kollektiv zum Fahneneid. Je schlechter das Englisch, desto lauter sympathisierte man. Die erfolgreichste Integrationsmaßnahme für Immigranten aus den ärmeren Ländern wie Mexiko, die ihre eigenen kulturellen Wurzeln einfach in amerikanischen Boden verpflanzen. Patrioten haben hier ganz unterschiedliche Hautfarben, Religionen und Herkünfte.
Valerie war da ganz anders und stellte so ziemlich alles in Frage, was typisch amerikanisch war. Ganz besonders die republikanische Regierung. Noch bevor wir unsere Nachnamen kannten, hatte Val das Bedürfnis, ihre politische Gesinnung klarzustellen. „Karl Rove, der Berater von Präsident George W. Bush, ist die personifizierte Skrupellosigkeit. Der hat alle Fäden in der Hand und wird nicht umsonst ‚Bushs Gehirn‘ genannt“, erzählte sie mir und regte sich fürchterlich über die Republikaner auf. Wir waren das erste Mal zusammen aus und saßen in einer belanglosenBar in unserer „Neighborhood“. Val lebte schon in Williamsburg, als die Immobilienhaie nicht einmal wussten, dass es überhaupt existierte. Von „Hot Spots“ hatte sie keine Ahnung. Sie besuchte noch immer die Restaurants und Kneipen, in die sie schon immer gegangen war.
„Ich liebe euch Europäer und eure europäische Mentalität“, sagte sie und erzählte mir schwärmerisch von den drei Monaten, in denen sie einige Wochen in der Schweiz am Theater gespielt hatte und den Rest der Zeit durch verschiedene Länder gereist war.
Als Frankreich und Deutschland sich gegen einen Angriff auf den Irak aussprachen, hatte sich das Verhältnis zwischen den USA und dem „Alten Europa“ auf politischer Ebene ein wenig verspannt. In New York war davon nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil. Aber Valerie erzählte mir erschüttert, dass die Kantine im Abgeordnetenhaus ihre French Fries, wie Pommes in Amerika genannt werden, aus Protest gegen Frankreich in „Freedom Fries“ umbenannt hatte. „Das ist doch wirklich Kindergarten-Niveau. Ich kann nicht glauben, dass sich Politiker zu so etwas herabgelassen haben. Kein Wunder, dass wir Amerikaner in Europa mittlerweile so unbeliebt sind“, empörte sie sich.
Valerie war nicht die Einzige, die ständig hervorhob, wie toll sie alles Deutsche fand. In New York war Deutschsein plötzlich cool. Unsere Literaten. Unsere schnöde Ehrlichkeit. Unsere Qualitätsprodukte. Unsere Pünktlichkeit. Und ganz besonders unsere Hauptstadt. Berlin war für alle New Yorker „the place to be“. Bisher war ich es gewohnt, dass man sich als Deutscher geschmeichelt fühlte, im Ausland nicht als solcher erkannt zu werden. In Deutschland hatte Deutschsein etwas Sprödes und Langweiliges. Hier hingegen war man fast ein Exot. Jeder Amerikaner bemühte sich, eine verwandtschaftliche Verbindunghervorzukramen, meistens über viele Ecken, aber immer voller Stolz. Mit Distanz entwickelte ich ein ganz neues Bewusstsein für gewisse deutsche Wesenszüge und Errungenschaften. Und ich vermisste plötzlich ganz banale Dinge. Nicht nur das saftige Vollkornbrot, das wir Deutschen überall im Ausland vergeblich suchen. Sondern so weltliche Alltagsgegenstände wie Toilettenpapier. Das war hier so hauchdünn, dass ich gar nicht weiter darauf eingehen möchte. Dabei war der Erfinder ein New Yorker!
Es wurde kälter, und ich sah fassungslos zu, wie das Thermometer immer tiefer in die Minusgrade stürzte. Am erbarmungslosesten war der Wind, der einen an den Straßenkreuzungen manchmal von allen Seiten ohrfeigte. Auf den Straßen sah man nur noch vermummte Gestalten in dicken Daunenmänteln und Boots, die Mützen tief ins Gesicht gezogen. Dass man dabei aussah wie ein Michelin-Männchen, war allen völlig egal.
Im Büro hingegen herrschte Hochsommer. Die Heizung blies auf vollen Touren. Ich saß im T-Shirt am Schreibtisch, und mir war heiß, während von draußen eisiger Wind gegen die Scheibe pustete. Schweren Herzens riss ich immer wieder das Fenster auf, um Schweißausbrüche zu verhindern. Ich gewöhnte mich an den Zwiebel-Look und begann mehrere Schichten zu tragen, die man je nach Bedarf ab- und anlegen konnte.
Nicht nur in den Büros, auch in den New Yorker Wohnung sind die Heizungen meistens zentral gesteuert und laufen im Winter rund um die Uhr. Dieses schizophrene Temperatur-Hoch zwingt die Mieter, ständig dagegen anzukühlen.
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