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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Sieger
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Schon 1614 gründeten die Niederländer die Kolonien „Neu Niederlande“ und an der Südspitze „Neu-Amsterdam“. Die Geburt der Metropole, noch bevor sie eine war, begann mit einem skrupellosen Immobiliendeal. Im Tausch gegen die Insel bot man den Einheimischen Waren im Wert von geschätzten 24 Dollar. Die dachten, es handle sich nur um einen temporären Handel. Ein folgenschwerer Irrtum. Die Europäer blieben und vermehrten sich. Warum? Weil der optimal gelegene Hafen sich als Goldgrube entpuppte. Wie ein Magnet zog die Aussicht auf ein Riesengeschäft oder weniger elendes Leben Menschen aus aller Welt an.
    Auch England, eine der einflussreichsten Kolonialmächte, wollte mitverdienen. Nach zwei Anläufen eroberten die Briten 1664 Manhattan und gaben der Stadt einen neuen Namen: „New York“ – ein Geschenk an den „Duke of York“. Die Stadt wuchs und wuchs, unbeeindruckt von denhistorischen Meilensteinen, die sich nebenbei ereigneten: die amerikanische Revolution im Jahre 1776, auf der die Unabhängigkeit von der britischen Krone folgte. Fast hundert Jahre später der Bürgerkrieg von 1861 bis 1865, auf den die – theoretische – Befreiung der Sklaven, die industrielle Revolution und eine weitere Flutwelle europäischer Immigranten folgten. New York explodierte und wurde zur verheißungsvollen Zuflucht für Millionen Deutsche, Iren und Italiener. Es wurde eng in der Stadt, die schon Ende des 19. Jahrhunderts, als es noch keine Wolkenkratzer und somit keine vertikalen Auswege aus dem Platzmangel gab, fünf Millionen Einwohner zählte. Für viele war das Leben hier ein täglicher Überlebenskampf.

    Noch immer strömen jeden Tag neue Immigranten in die Stadt. Legal und illegal. Sich zu behaupten gehört zum Alltag. Dieser tägliche Kampf ist für die meisten weitaus weniger existentiell als damals. Statt um Jobs prügelt man sich heute um das neuste iPhone. Aber sobald die alltägliche Routine aussetzt – sei es wegen eines Schneesturms, Stromausfalls oder ganz einfach, weil jemand Hilfe benötigt –, beweist der New Yorker ein unglaubliches Maß an selbstloser Menschlichkeit. Er wartet förmlich auf die Gelegenheit, sein eigenes leistungsgesteuertes Dasein für einen Augenblick zu unterbrechen. Um zu helfen. Selbst in ganz harmlosen Situationen. Jedes Mal, wenn ich mich an der Straßenkreuzung orientierungslos in meinen Stadtplan verheddert hatte, vergingen keine zehn Sekunden, bis jemand höflich fragte, ob er mit dem Weg weiterhelfen könne. Oder als ich nach Weihnachten mit meinen pfundsschweren Koffern zurückkehrte. Ich hatte mein Gepäck gerade vom Zug bis zur ersten U-Bahn-Treppenstufe geschleppt, als plötzlich eine helfende Hand zur Stelle war. Oben angekommen,verabschiedete man sich freundlich und verschwand wieder in sein eigenes Leben. Besonders rührende Hilfsbereitschaft ereilte mich eines Morgens, als mir, nicht wissend, dass ich Fieber hatte, in der vollen U-Bahn plötzlich schwindlig wurde. Ich kippte wie ein Klappmesser nach vorne. Vier Leute sprangen gleichzeitig auf und boten mir ihren Sitzplatz an. Einer bestand sogar darauf, mit mir auszusteigen, um mich bis zu meinem Büro zu eskortieren.
    Und dann gab es die wirklichen Katastrophen, wie den 11. September 2001. Die schweißten erst recht zusammen, trotz Schock, Verwirrung und der tiefen Wunde, die der Terroranschlag der Stadt zugefügt hatte. Meine New Yorker Freunde schwärmen noch heute davon, dass in dieser tragischen Situation alle füreinander da waren, statt sich verängstigt in Sicherheit zu bringen und zurückzuziehen.
    So auch, als eines heißen Sommertages im August 2003 in der ganzen Stadt der Strom ausfiel. Erst hatte man große Befürchtungen, dass sich die historischen Straßenschlachten von 1977 wiederholen könnten. Damals entzündete der Blackout eine Welle der Gewalt. Die Stadt war bankrott und nicht in der Lage, rechtzeitig zu reagieren. Läden wurden geplündert, Autos in Brand gesetzt und die ganze Stadt war außer Rand und Band. Das Magazin Times betitelte dieses Ereignis damals als „Die Nacht des Terrors“. Fast dreißig Jahre später passierte das Gegenteil. Der Stromausfall brachte das Beste des New Yorker „Spirits“ zum Vorschein und führte zur „Nacht der Mitmenschlichkeit“.
    Am Spätnachmittag gingen die Lichter, Computer, Züge und Klimaanlangen aus. Alles stand still. Man überlegte kurz, ob es sich um einen weiteren Terroranschlag handeln könnte, stellte erleichtert fest, dass dem nicht so

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