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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Sieger
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eigentlich erstaunlich selten, aber man begegnete ihnen. Menschen, die aus eben dieser Spur gerutscht und auf der Strecke geblieben waren. Die dem Druck eines gewöhnlichen Lebens nicht mehr standhielten. Keine Energie mehr hatten, um sich für die Gesellschaft zusammenzureißen, und dann irgendwann einfach explodierten oder stillschweigend in das Schattendasein der Obdachlosigkeit abdrifteten. Das Gute war: Auch diese Menschen hatten ihren Platz im New Yorker Potpourri. Sie gehörten dazu.
    Der verwitterte Musiker mit dem langen dünnen grauen Haar zum Beispiel, der sich in der F-Train-Station 14. Straße tagtäglich mit geschlossenen Augen in die Vergangenheit rockte. Voller Leidenschaft umklammerte der dürrealte Mann die Gitarre und sang krächzend seine Songs. Aus einer Zeit, in der er noch Träume hatte. Der hetzende Feierabendstrom war kein dankbares Publikum, aber wenn der Rocker mal nicht da war, fehlte etwas.

    Die New Yorker U-Bahn war Oper fürs Volk und hatte ihren ganz eigenen Soundtrack. Fast in jeder Station spielten Musiker für die täglich fünf Millionen Fahrgäste. Ein multikulturelles Ensemble: Volksmusik aus Ecuador, Violine aus China, Popmusik aus Amerika. Und sie schafften es immer wieder, noch kurz bevor sich die Tür schloss, ein Lächeln oder eine Gänsehaut mit auf den Weg zu geben.
    Am Union Square beispielsweise hatte sich ein junger Musiker in die Herzen seiner Zuhörer getrommelt. Auf Eimern. Mittlerweile ist er der Star im Untergrund. Jedes Mal, wenn ich dort auf meinen Zug wartete, war er von Fans umringt. Ihre Körper wippten im Takt, Daumen schnippten, die Gesichter lachten. Stress und Sorgen lösten sich in rauschenden Applaus auf.
    In der U-Bahn kam man den New Yorkern näher als sonst wo. Hier überschnitten sich die Lebenswege aller und bewegten sich manchmal ganz willkürlich für ein paar Stationen auf der gleichen Spur. Seit über hundert Jahren kommen die Bewohner dieser Stadt auf 722 Meilen langen U-Bahn-Schienen ans Ziel. Auf dem Weg zur Arbeit oder ins Kino. Mit Shoppingtüten im Arm, Schoßhunden oder Kindern. Hier unten halten alle für ein paar Minuten inne, versinken in ihre eigene Gedankenwelt, in Bücher oder Gespräche, bevor es sie wieder an die Oberfläche treibt und das hektische Leben sie weiterreißt.

    Zurück zum Fahrrad. Ich wäre wahrscheinlich nie von selbst auf die Idee gekommen, mir eins zu kaufen. AberValerie radelte mir täglich einen vor. Statt sich mit Tüten abzuschleppen, erledigte sie ihre Einkäufe entspannt mit dem Fahrrad, die Lebensmittel vorne im Korb. Während ich bei jeder Verabredung erst mal überlegte, wie, wo, welche U-Bahn, konnte Valerie völlig unabhängig losfahren. Natürlich mussten Radfahrer aus Brooklyn zunächst den East River überqueren, wenn sie nach Manhattan wollten. Aber man konnte die Drahtesel unkompliziert mit in den L-Train nehmen oder einfach über die Williamsburg Bridge fahren, die nur ein paar Blöcke von unserem Haus entfernt lag. „Ein Fahrrad in New York ist super praktisch. In dem Verkehrsgewimmel in Manhattan muss man halt ein bisschen aufpassen, aber ich war noch nie in einen Unfall verwickelt“, sagte Valerie. „Wenn du auch eins hättest, könnten wir mal ne schöne Radtour machen.“ Überredet.
    So stand ich eines Sonntags auf dem Flohmarkt an der 6 th Avenue und verliebte mich in eines dieser typisch amerikanischen nostalgischen Cruiser mit dem geschwungenen Rahmen, den plumpen Reifen und dem weit gespreizten Lenker. Ein älteres Model in Ozeanblau. „Sie brauchen sicher auch ein Schloss?“, fragte der Mann und zeigte auf eine Reihe riesiger schwerer Gliederketten aus Stahl, die hinter ihm am Zaun hingen. Ich zögerte. „Wenn Sie keines haben, brauchen Sie ganz sicher eins, sonst ist das Fahrrad morgen weg, das verspreche ich Ihnen“, insistierte er. „Ja, aber ich glaube, diese wuchtige Kette da ist wirklich nicht notwendig, ich kaufe mir irgendwo ein normales Schloss“, sagte ich. Der Mann sah mich ungläubig an und fing laut an zu lachen. „Ein normales Schloss? Das können Sie in New York gleich vergessen. Dann müssen Sie sich erst gar nicht die Mühe machen, ihr Rad abzuschließen. Hier funktionieren nur Kryptonites“, beharrte er. „Krypto was?“, fragte ich. – „Sie kaufen wohl das erste Mal ein Fahrrad?“
    Ja, in New York tatsächlich, mein erstes Fahrrad. Ich ließ mich dann doch überzeugen und war kurz darauf stolze Besitzerin eines Fahrrades im Wert von 90 Dollar und

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