Ein Jahr in New York
zum nächsten Bild. Neben uns schob einedurchgestylte Mutter ihre beiden Zwillingsbabys in einem alten nostalgischen Kinderwagen an den Landschaftsaufnahmen vorbei. Sie trug teure Boots mit hohen Absätzen und sah aus wie ein Model. Aus dem zweiten Raum schoss uns ihr Sohn auf dem Tretroller entgegen.
„Ich weiß nicht, wie du groß geworden bist“, sagte ich zu Noelle, und mir fiel mal wieder auf, wie fremd mir die Vergangenheit meiner neuen Freunde war, „meine Eltern haben mich zwar auf einige Hippie-Festivals geschleppt, aber an eine Ausstellung kann ich mich partout nicht erinnern.“ Das kulturelle Erziehungsprogramm meiner Kindheit beschränkte sich mehr oder weniger auf den Bastelunterricht im Kindergarten. Vielleicht sollte ich ein Geständnis dieser Art in New York lieber für mich behalten?
„Die Kinder in dieser Stadt haben uns gegenüber doch einen riesigen Vorsprung. Was die schon alles zu sehen bekommen haben, bevor sie überhaupt einen Buntstift in der Hand halten können“, fügte ich hinzu. Ich erinnerte mich an die siebenjährige Tochter meiner Kollegin Olga, die uns letzte Woche im Büro einen Besuch abgestattet hatte. Zu unser aller Freude. Denn um gefaltete Papierflieger aus dem Fenster des 26. Stock zu werfen, braucht man definitiv einen Komplizen unter zwölf. Dann freut man sich selbst wie ein Kind, wenn der langsam in die Tiefe segelnde Flieger einem verdutzten Passanten vor die Füße stürzt. Emma präsentierte mir stolz ein Bild, das sie am Vortag in der Schule gemalt hatte. Ein Haufen bunter Kleckse. Ich wollte gerade ein Lob aussprechen, als sie mir zuvorkam: „Nur damit du Bescheid weißt: Das ist meine Interpretation von Jackson Pollock.“ Jackson Pollock? Woher wusste ein siebenjähriges Mädchen, wer Jackson Pollock war?
Wir schlenderten weiter. Um uns herum extrem gut angezogene Menschen, in ihrer Individualität fast schonkonform. Jeden Alters. Mit intellektuell wirkenden Brillen. Großen Handtaschen. Kindern. Hunden. In die Betrachtung vertieft. Im hektischen Vorbeigehen. Nach zehn Galerien konnte ich mich nicht mal an die Hälfte der betrachteten Künstler erinnern.
Etwa vier Stunden später großer Applaus. Valerie auf der Bühne zu sehen verlieh ihrer Person eine ganz neue Dimension. Noelle und ich strömten mit den anderen Zuschauern aus dem Theater. „Was machen wir jetzt?“, fragte Noelle. „Also, wir haben vier Möglichkeiten“, sagte ich und wollte gerade ausholen, um unsere Optionen aufzuzählen, als plötzlich ein Mann dicht neben uns stehen blieb. Er trug einen grauen Anzug, eine rote Fliege, einen elegant gestutzten Bart und streckte uns etwas entgegen. Ein Bouquet. Nein, keine Blumen. Pinsel! „Wollt ihr ’nen Pinsel kaufen?“, fragt er trocken und schaut uns ganz ernsthaft an. Einen kurzen Augenblick waren wir beide verdutzt. „Only in New York, Kids, only in New York …“, prustete Noelle laut los.
Mai
„ F AHRRAD FAHREN IN N EW Y ORK? Ist das nicht ein bisschen lebensmüde?“, die Reaktion aus Deutschland war immer die Gleiche. Eine berechtigte Frage. Auch ich hatte bis dato nur tätowierte Kuriere und müde Pizza-Lieferanten für verrückt genug gehalten, ein Zweirad durch die New Yorker Verkehrshölle zu manövrieren. Und die Rikscha-Fahrer, die den Taxis seit neustem motorlos Konkurrenz machten. Also Menschen, die vom Sattel aus ihren Lebensunterhalt bestritten. Alle anderen, so dachte ich, fahren U-Bahn oder Taxi. Denn ein Auto besaß niemand. Zumindest war ich hier bisher noch keinem Fahrzeughalter begegnet. Denn wer hatte schon Lust, in aller Herrgottsfrühe regelmäßig auf der Suche nach einem neuen Parkplatz um die Blöcke zu kreisen, weil die Straßenreinigung mal wieder den Dreck der letzten 24 Stunden beseitigen wollte. Natürlich gab es Stellplätze im Parkhaus, aber die kosteten genauso viel wie eine Wohnung, sprich: Sie waren unbezahlbar. Außerdem war ein eigenes Auto in New York überflüssig. Das U-Bahn-Netz erstreckte sich mit 468 Stationen über die ganze Stadt und die Züge fuhren rund um die Uhr. Die Yellow Cabs auch. Und davon gab es über 14 000 in der Stadt, hauptsächlich in Manhattan. Deshalb waren Staus hier gelb, denn außer Cabs sah man kaum andere Fahrzeuge.
Mir war noch immer ein Rätsel, warum diese vielen Taxis grundsätzlich besetzt waren. Immer wenn man gerade dringend eines brauchte. Dann stand man amStraßenrand, wedelte verzweifelt mit dem rechten Arm und schrie: „Taxiiii!“ Und die vielen Taxis
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