Ein Jahr in New York
Künstler-Netzwerk ‚Fluxus‘ – lateinisch für ‚fließen‘. Kreative aus ganz unterschiedlichen Bereichen wie der Musik, der Literatur, der Malerei ‚flossen‘ zusammen und veranstalteten ‚Happenings‘: avantgardistische Performances und konzeptionelle Kunst, die von Spontaneität, Improvisation und der Verschmelzung verschiedener Disziplinen, spiritueller Werte und politischer Themen lebte. Der Zuschauer wurde zum Teil der Kunst. Man lebte Kunst. ‚Jeder ist ein Künstler‘, behauptete Beuys damals kühn und erhob jeden noch so alltäglichen kreativen Akt zur Kunst. Kuchenbacken ebenso wie ein Gemälde malen. Kunst als Anti-Kunst für alle. Ein Affront gegen die elitäre Oberschicht. Ja, und wäre SoHo der geplanten Schnellstraße zum Opfer gefallen – wer weiß, vielleicht hätte sich die Kunstwelt in New York niemals so entfalten können. Dank der heftigen Bürgerproteste wurdeverhindert, dass ein wichtiges Stück Bau- und Kunstgeschichte verloren ging.“
Was dann passierte, wissen wir.
Kreative wurden durch Touristen ausgetauscht und Galerien durch edle Boutiquen. SoHo ist mittlerweile einer der teuersten Immobiliengründe Amerikas. Schon Mitte der Neunziger konnte sich dort niemand mehr leisten, Kunst zu verkaufen. Die Galerien wanderten nach Chelsea ab. „Wenn ich euch jetzt noch einen Vortrag über Chelsea halte, sind die Galerien geschlossen, bevor ihr da seid“, scherzte Laura, und es wurde Zeit zu gehen.
„Wo sonst bekommt man Kunst in dieser Vielfalt und Dichte zu sehen – und das ohne Eintritt“, schwärmte Noelle. Ich nickte zustimmend. Wir schlenderten von einer Galerie zur nächsten. Tür an Tür wurden in ehemaligen Garagen, Lagerhallen und Industriegebäuden Werke berühmter Künstler ausgestellt. Die Räume sahen alle gleich aus. Groß, leer, weiße Wände, hohe Decken, Betonfußboden. Und es herrschte fast überall, trotz reichlichem Besuch, sakrale Stille. Für alltägliche Belanglosigkeit war hier kein Platz. „Noch vor Ende der Vernissage war die komplette Ausstellung schon ausverkauft. Hat mir gerade die Frau am Empfang erzählt“, flüsterte Noelle mir ins Ohr. Nun hing sie noch ein paar Wochen für die Öffentlichkeit an der Wand. Für Menschen wie uns, mit keinerlei Kaufabsicht und schon gar nicht dem nötigen Budget. Millionen waren hier auf wenigen Blöcken ausgestellt, in den renommiertesten Galerien der Welt. Matthew Marks platzierte sich hier mit vier Niederlassungen und Werken von Andreas Gursky, Fischli und Weiss und Willem de Kooning. Die Gagosian Galerie vertrat Künstler wie Richard Serra, Andy Warhol und Anselm Kiefer. Und bei Barbara Gladstone wurden Richard Princeund Matthew Barney verkauft. „Unglaublich praktisch, dass die Kunstwelt sich in einem Viertel versammelt hat und man nicht quer durch die Stadt fahren muss, um sich verschiedene Ausstellungen anzuschauen“, sagte ich. Natürlich waren die New Yorker Galerien in der ganzen Stadt versprengt, aber Chelsea war mit dreihundert das offizielle Epizentrum. Einige der etablierten Galerien hatten auch noch eine weitere Ausstellungsstätte in Midtown. Und in der Lower East Side, Williamsburg und Dumbo hatten in den letzten Jahren viele Newcomer eröffnet. Und dann gab es natürlich noch ein paar Überbleibsel im ehemaligen Künstlerviertel SoHo.
„Schau dir die beiden da drüben an“, sagte Noelle. Wir standen in der Charles Cowles Galerie, und sie deutete auf einen Mann und eine Frau älteren Jahrgangs. Beide im Partnerlook. Sie trugen Baskenmützen. Er in Grün, sie in Gelb. Darunter kamen bei ihr ein grauer Pagenschnitt und bei ihm ein grauer Kurzhaarschnitt und große Männerohren zum Vorschein. Dazu hatten sie adrette, farblich abgestimmte Rollkragenpullover an. Er in Grün, sie in Gelb. Die beiden waren mindestens schon siebzig. „Die sind in ihrer Jugend sicher noch durch die Galerien in SoHo geschlendert“, tuschelte Noelle mir zu. Sie standen vor einer überdimensionalen Fotografie des Künstlers Edward Burtynsky und studierten durch ihre dicken Brillengläser intensiv ein Bild der Reihe „Shipbreaking“. Die fotografische Dokumentation eines Schiffsfriedhofs in Bangladesch: riesige, an den Strand gespülte Industrie-Leichen. „Erinnerst du dich an seine Ölfelder?“, fragte sie. „Natürlich, vor zwei Jahren, was für eine kraftvolle Gegenüberstellung ...“ Die Falten, die von einigen Jahrzehnten Leben zeugten, bewegten sich lebhaft beim Sprechen. Hand in Hand gingen sie langsam
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