Ein Jahr in New York
Ständig radelte ich aus Versehen dem wild hupenden Verkehr in den Einbahnstraßen entgegen, und dann fuhr ich auch noch mitten in das Verkehrs-Chaos am Times Square. Hier brodelte der Kessel endgültig über. Rad-Regel Nummer eins: Midtown weiträumig meiden. Regel Nummer zwei: Immer nur in die Einbahnstraßenfahrtrichtung radeln. Regel Nummer drei: Beschimpfungen und Versuche, über den Haufen gefahren zu werden, nicht persönlich nehmen. Als ich wieder auf den gemütlichen Querstraßen im schönen Chelsea gelandet war, fing ich an, die neue mobile Freiheit zu genießen. Um mich herum niedliche Brownstones. AmStraßenrand leuchtend grüne Bäume. Menschen, die auf ihren Treppenaufgängen saßen und die New York Times lasen.
Von der Freiluft-Mobilität beflügelt, radelte ich kreuz und quer. Von Chelsea in den Meatpacking District, wo mich das Kopfsteinpflaster kräftig durchschüttelte. Von dort ins West Village, wo ich an der langen Schlange kuchenhungriger Menschen vor der berüchtigten Magnolia-Bakery vorbeiradelte. Richtung Osten nach SoHo, wo ich mit Tüten beladenen Shoppingtouristen ausweichen musste. Ins East Village, wo ich lauter schnuckelige öffentliche Gärten entdeckte. Kleine grüne, von den Nachbarn gepflegte Oasen, die zwischen den Häuserzeilen wucherten. Weiter in die südliche Lower East Side, wo mich die Williamsburg Bridge direkt nachhause führte.
Am darauf folgenden Samstag setzen wir die Radtour in die Tat um. Ich saß auf meinem blauen Cruiser. Neben mir fuhren Valerie auf ihrer rosaroten Möhre und Jonathan auf einem schwarzen Klapprad. Die Sonne strahlte mit unseren Frühlingsgefühlen um die Wette und war so warm, dass man eigentlich Sommergefühle hätte haben müssen. Der Winter war überstanden.
„Wisst ihr, dass die Bedford Avenue die längste Straße in Brooklyn ist, 10,2 Meilen und 132 Blöcke lang?“, sagte Jonathan. Valerie war auf die Idee gekommen, die Bedford von Anfang bis Ende zu fahren. Und wieder zurück.
Das Stück Bedford Avenue, das zu unserem Alltag gehörte, war die Hauptstraße der Williamsburger Hipster-Szene mit all den kleinen Boutiquen, Bio- und Buchläden, auf der ich jeden morgen zur U-Bahn lief. Sie entsprang etwas oberhalb von Williamsburg an der Manhattan Avenue in Greenpoint. Dort wo Noelle und viele Polen wohnten.Und endete laut Valerie am Strand, in der Bucht „Sheepshead Bay“. „Du glaubst also wirklich, dass wir tatsächlich am Strand landen, wenn wir einfach nur die Bedford Avenue Richtung Süden fahren?“, fragte ich skeptisch. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“
„Ich glaub das nicht, ich weiß es. Vergiss nicht, deine Badesachen einzupacken.“ Das meinte sie ernst.
Da wir in Williamsburg wohnten, übersprangen wir den polnischen Abschnitt Greenpoint, bogen gleich rechts auf die Bedford ab und radelten Richtung Süden. „Mach dich auf eine kleine Reise durch New Yorks ethnische Vielfalt gefasst“, sagte Valerie. Bevor wir die Williamsburg Bridge erreichten, radelten wir an etlichen Bodegas vorbei, die sich an jede Straßenecke klammerten. Davor saßen mindestens zwei Puerto Ricaner, zum Teil ganze Familien. Aus den Geschäften dröhnte laut Salsa-Musik, die uns bis zur Brücke begleitete. Kaum hatten wir diese unterquert, waren sowohl die Hipster als auch die Puerto Ricaner verschwunden.
Es wurde still. Mini-Vans parkten dicht an dicht am Straßenrand. Orthodoxe jüdische Männer liefen in Grüppchen über den Bürgersteig. Schweigend, in ihrer üblichen altmodischen Einheits-Uniform. Schwarze, bodenlange Mäntel, Schläfenlöckchen, Hüte. Die Frauen schoben Kinderwagen vor sich her und folgten mit Abstand. Es war Sabbat, und sie kamen gerade aus der Synagoge, an der wir vorbeifuhren.
„Wusstest du, dass die orthodoxen Juden während des Sabbats nicht arbeiten dürfen und dass sogar das Anknipsen von Elektrizität verboten ist? Deshalb haben viele Familien Zeitschalter, die automatisch die Heizung oder das Licht einschalten“, flüsterte Jonathan mir zu. „Selbst die Aufzüge können nicht benutzt werden, weil man keine Knöpfe drücken darf. Und Autofahren geht natürlich auchnicht.“ Aha, deshalb war es hier so friedlich still. „Was du immer für Geschichten auf Lager hast“, schmunzelte Valerie. „Ich bin halt daran interessiert, was in unserer Gemeinde Williamsburg los ist.“ Wir fuhren an einfältigen Mietshäusern mit vergitterten Fenstern und Balkonen vorbei, auf denen einsam riesige bunte
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