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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Sieger
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eines zwei Kilo schweren Schlosses von Kryptonite im Wert von 110 Dollar. „Und vergessen Sie nicht, immer schön Ihr Hinterrad mit anschließen!“, rief mir der Mann hinterher.
    „Ich weiß, es tut weh, fürs Schloss mehr auszugeben als fürs Fahrrad, aber alles andere wäre pure Dummheit. Jeder intelligente New Yorker Fahrradfahrer besitzt ein Kryptonite“, bestätigte mir Valerie am Abend meine Investition. Das Modell, das ich mir gekauft hatte, hieß passenderweise „New York“. Kryptonite hatte die Ketten hier schon in den Siebzigern gegen Diebstahl getestet. Offensichtlich mit Erfolg.
    Geklaut wird natürlich noch immer wie am laufenden Band. Nicht die sicher angeketteten Rahmen, aber alles, was man abschrauben und -hebeln kann. Ganz nach den Regeln der selektiven Wahrnehmung sah ich auf meinem Heimweg etliche Fahrräder, die sich um die Lampenpfosten und sonst jeden zur Verfügung stehenden Pol pferchten. Angekettet mit Kryptonites. Und: An jedem dritten Rad fehlte etwas. Mal der Sattel. Mal der Vorderreifen. Oder der Hinterreifen. Oder beide. Gelegentlich auch mal ein Lenker. Bei einigen Fahrrädern blieb nur noch der angekettete verstümmelte, meist schon rostige Rumpf zurück. Ein trauriger Anblick.

    Aufrecht cruiste ich durch Manhattan, das schwere Kryptonite wie ein Gürtel um die Hüfte geschlungen. Ein weiterer Tipp meines netten Verkäufers. Die Cruiser waren besonders populär in den Sechzigern und Siebzigern im sonnigen Kalifornien. Mit den breiten Reifen ließ sich primaüber die Strände heizen. Die robuste Bereifung kam allerdings auch in New York sehr gelegen. Zum Teil sahen die Straßen aus wie zerbombte Schlachtfelder. Auf der South 3 rd Street zum Beispiel hatte sich vor etwa drei Wochen ein Krater aufgetan, der den orangefarbenen Warnzylinder komplett verschluckte. Nicht einmal die Spitze war zu sehen. Auch in Manhattan wurden ständig neu geteert, gestopft und ausgebessert. Die Straßen sahen aus wie Flickenteppiche, die an irgendeiner Stelle immer wieder aufrissen.
    Ich fuhr durch Straßen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Zu Fuß hatte ich immer nur den Radius um die U-Bahn-Stationen erfasst. Alle weiteren Distanzen legte ich unterirdisch zurück. Ein ganz neues Terrain erschloss sich mir oberhalb der U-Bahn-Linien.
    Zugegeben, auf einigen Straßen bestand nicht die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit auch nur eine Sekunde vom Verkehr abschweifen zu lassen. Ohne weiteres wäre man umgehend von einem Auto angefahren worden. Besonders auf den Avenues war der konzentrierte Blick auf die Straße überlebensnotwendig. Ich fuhr auf der 6 th Avenue, Richtung Midtown, und hatte nur noch Autos vor Augen. Die vierspurige Einbahnstraße war ein Albtraum. Und das, obwohl es sogar einen Radweg gab. Auf dem standen allerdings in regelmäßigen Abständen parkende Autos. Und die Taxis wichen gerne ruckartig auf die Radspur aus, um hupend am stockenden Verkehr vorbeizuzischen. Das Hupen galt mir, wie ich erstaunt und etwas erschrocken feststellte, als mir ein Taxifahrer wütend seine Faust entgegenwirbelte. Gott sei Dank hinter verschlossenem Fenster. Dabei war ich nur einem anderen Taxi ausgewichen, das gerade einen Fahrgast entlud. Was sollte ich tun? Auf den überfüllten Bürgersteig ausweichen?
    „Falls Sie Fahrrad fahren, seien Sie bloß vorsichtig und hüten Sie sich vor Taxifahrern. Die hassen Radfahrer“, hatte mich mal ein netter persischer Fahrer im Taxi gewarnt. Jetzt wusste ich, wovon er sprach.
    Als radelnder Verkehrsteilnehmer hatte man plötzlich lauter Feinde. Die Taxifahrer waren sauer, weil man ihnen zu langsam fuhr. Die Fußgänger waren genervt, wenn man nicht jedesmal eine Vollbremsung einlegte, wenn sie noch schnell über die schon rote Ampel huschten. Und die Busfahrer hupten erbost, wenn man links an ihnen vorbeizog, während sie sich unerwartet von der Haltestalle wieder in den Verkehr einfädelten.
    So langsam stieg auch mein Adrenalinspiegel. Ich fing an, lauthals auf die auf dem Fahrradweg parkenden Autos zu schimpfen, und schlug einem Taxi wütend an die Flanke, weil es keinen Millimeter Abstand hielt. Rechts neben mir zischte ein Fahrradkurier vorbei, der sich durch die fahrende Masse schlängelte, als hätte er außer Zeit nichts zu verlieren. An sein Leben dachte er offensichtlich nicht.
    Alle Überlebensmechanismen, die ich mir in den letzten Monaten als Fußgänger angeeignete hatte, waren plötzlich nutzlos. Hier waren andere Geschicklichkeiten gefragt.

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