Ein Jahr in New York
war.
„Woody Allen ist hier zur High School gegangen, in dem alten Gebäude mit den riesigen weißen Säulen, an dem wir gerade vorbeigeradelt sind. Kein Wunder, dass er Manhattan so romantisiert hat“, sagte Val, „Midwood ist ja noch spießiger und langweiliger als Massachusetts.“
Es wurde kleinstädtischer, und die Häuser rückten wieder zusammen. Altmodische zweigeschossige Reihenhäuser aus rotem Klinker, auf deren Veranden pinkfarbene Geranien leuchteten. Und dann tatsächlich. Am Horizont tauchten wie aus dem Nichts Schiffsmasten auf. Das Meer! Zumindest die Bucht. „Willkommen in Sheepshead Bay ander Atlantikküste!“, jubelte Valerie. Über uns kreischten die Möwen. Von salziger Seeluft beseelt, rasten wir die Promenade entlang bis zum Strand, schmissen unsere Räder in den Sand und liefen zum Wasser. Schuhe aus, Beine rein. „Woah, kaaaalt!“, schrie ich und musste tief Luft holen, so eisig war das Wasser.
„Ich habe Hunger!“, rief Jonathan. „Ich auch!“, stimmten Valerie und ich wie aus einem Mund zu. Nach drei Stunden im Sattel kein Wunder. An der Promenade hatten wir die Wahl, jede Nationalität war im Angebot, wie die Namen schon ankündigten: Mambo Sushi, Thai Café, Istanbul, Olymp, New York Steak House oder China Star. Wir entschieden uns für ein griechisches Restaurant, direkt am Wasser. Um uns herum Tische mit Großfamilien – Oma, Mama, Papa, die Kinder, alle dabei, und alle sprachen griechisch. Wir bestellten einen riesigen griechischen Salat, mit Reis gefüllte Weinblätter und viel Tsatsiki mit Fladenbrot. Dazu Corona-Bier, aus Mexiko. „Der ethnische Mix macht’s“, prostete Jonathan uns zu. „Auf New Yorks Vielfalt“, hob Valerie ihren Plastikbecher. „Dass hier wieder alles auf Einweggeschirr serviert wird, finde ich ziemlich daneben“, warf ich kleinlaut ein. Das konnte ich mir einfach nicht verkneifen. „Also ihr Deutschen könnt euch wirklich nicht entspannen“, sagte Jonathan. Er grinste dabei, aber ich war einen Moment lang beleidigt. Das hatte abfällig geklungen. „Auf die Umwelt-Nazis!“, rief er. Ich schluckte. Das Wort traf mich noch immer. „Sei doch nicht so empfindlich. Wir sagen hier ständig zu allem Nazi. Du kennst doch sicher den Suppen-Nazi aus der Kultserie „Seinfeld“, oder? Wenn’s sogar im Fernsehen läuft, müsste der Begriff doch eigentlich politisch korrekt sein“, rechtfertigte sich Jonathan. Zugegeben, uns Deutschen fehlte in Hinsicht Selbstironie wirklich jeglicher Sinn für Humor. Da konnteich von den Amerikanern auf jeden Fall noch was lernen. „Na dann, auf uns Umwelt-Nazis!“, gab ich nach und trank einen großen Schluck Bier.
Auf dem Rückweg musste ich an einer Ampel einem Auto waghalsig den Weg abschneiden, damit mir Val und Jonathan nicht davonradelten. Der Fahrer des Wagens mit New Jerseyer Kennzeichen war außer sich: „Typisch New Yorker, ihr denkt wohl, dass ihr immer Vorfahrt habt!“ Erst wollte ich zurückmaulen. Nein, dachte ich plötzlich. Typisch New Yorker, diesem Vorwurf konnte ich mit Würde entgegengrinsen. Danke, für das Kompliment! Aber fühlte ich mich denn überhaupt wie einer? Wann durfte man sich selbst für einen „New Yorker“ halten? Die Antwort des bekannten amerikanischen Schriftstellers Thomas Wolfe war: „Zu New York gehört man auf der Stelle, egal ob man erst seit fünf Minuten oder schon seit fünf Jahren hier ist.“ Stimmte das? Mitten hinein in diese Überlegung platzte ein Gefühl der Zerrissenheit. Die Heimat wurde fremder, die Fremde vertrauter. Das eine ging nicht ohne das andere. Die schleichende Verlagerung der eigenen Wurzeln war nicht aufzuhalten. Irgendwann musste man sich entscheiden.
Juni
B EVOR ICH MICH MIT DER A NTWORT auf diese Zukunftsfrage weiter befassen konnte, kam erst mal ein Stück Heimat nach New York geflogen. Meine Freundin Maren. Ich freute mich riesig.
Wir saßen oben auf unserem Dach. Denn als Allererstes wollte ich ihr natürlich meinen ganzen Stolz zeigen: die Aussicht. „Und, hast du das Gefühl, dass du dich hier verändert hast?“, fragte sie mich, während wir mit einem Glas Sekt in der Hand über den East River hinweg auf Manhattan blickten.
Erst war ich fast ein bisschen empört. „Nein, natürlich nicht. Warum sollte ich mich verändert haben?“ Dann dachte ich, warum denn eigentlich nicht. Was wäre so schlimm daran? Warum hatte man immer Angst, sich zu verändern? Ging das überhaupt, in einer Stadt wie New York, die sich selbst im
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