Ein Jahr in New York
Schlussverkäufe werden auf das ganze Jahr ausgeweitet. Besonders populär sind die Restbestandsverkäufe der lokalen Designer, die zu regelrechten Shopping-Orgien verleiten, die bei mir zu erheblichen finanziellen Schäden führten. Ich begutachtete mich in einer schwarzen Strickjacke vorm Spiegel. Eigentlich brauchte ich keine. Denn ich hatte schon zwei ähnliche Modelle im Schrank hängen. Aber diese hier war schließlich von Marc Jacobs und achtzig Prozent heruntergesetzt. Und schon ergriff eine fremde Macht Besitz von meinem Gehirn, genannt Kaufrausch.
Und wenn mal fünf Tage kein Sale war, versuchten die Geschäfte es mit der „Buy one – get two“-Methode. Der menschliche Verstand wurde vom Instinkt hinterrücks ausgetrickst. Brauchte man tatsächlich zwei Paar neue Turnschuhe? Nein, aber wenn es was umsonst gab, war Zugreifen Pflicht.
Dann nahmen meine Arbeitskolleginnen mich eines Morgens mit zum Sigerson Morrison Sample Sale. Sigerson was? Ich hatte keine Ahnung, wer das war. Man klärte mich auf. Zwei junge New Yorker Schuhdesignerinnen, die so begehrt waren, dass Frauen 700 Dollar für ein paar simple Boots hinblätterten. Oder sich morgens um sieben Uhr zum Verkauf der Restbestände zwei Stunden lang ineine aufgeregte Warteschlange drängten. So wie wir. Die Tür öffnete sich, und eine wilde Horde Frauen stürzte sich auf die Kisten. Man kennt diese Bilder auch aus den deutschen Nachrichten. Jedes Jahr, wenn der Winter- oder Sommerschlussverkauf stattfand, sah man diese Schnäppchenjäger im Fernsehen, die sich bei Karstadt um ein weißes T-Shirt prügelten, weil es auf einen Euro reduziert war.
Doch diese Damen in Stilettos waren eine ganz andere weibliche Spezies: „Fashionista Shopaholics“. Frauen, die das Haus nur verließen, wenn die Schuhe farblich abgestimmt zur Handtasche und die wiederum zur Sonnenbrille passte. Deshalb war ich umso erstaunter, dass diese eleganten Ladys wegen eines Paares Schuhe ihre Fassung verloren. Na ja, um fair zu bleiben: Es handelte sich nicht nur um ein, sondern eher um fünf Paar Schuhe. Alle rafften so viele Schuhe zusammen, wie sie tragen konnten.
Als ich aus Versehen eine Sandale hoch hob, die achtlos am Rand lag, pfiff mich jemand hysterisch von hinten an: „Das ist meine!“ Ich ließ sie erschrocken fallen.
Dieser Shopping-Wahnsinn war leider ansteckend. Eine Stunde später stand ich an der Kasse. Mit vier Paar Schuhen! Ich hatte Bauchschmerzen. So viele Schuhe hatte ich noch nie an einem Tag gekauft. Nicht mal in einer Saison! „Die Stiefel musst du unbedingt nehmen, die kannst du im Winter zu jedem Kleid tragen. Und die Ballerinas auch, ach sind die süß.“ Ich wurde von allen Seiten angefeuert. Außerdem hatte ich ja auch irrsinnig viel „gespart“. Der Kassenbon wies extra darauf hin. 1200 Dollar weniger als der reguläre Ladenpreis. Mir wurde ganz heiß und ich konnte mich nicht entscheiden, ob diese Info meine Bauchschmerzen linderte oder verschlimmerte. Als ich den Laden verließ, war ich völlig erledigt. Dieses Guerilla-Shopping laugt ganz schön aus.
„Meinst du wirklich?“, fragte ich. „Auf jeden Fall“, antwortete Maren, „eine Kutschfahrt wäre der perfekte Abschluss“.
Wir kamen von einer Ladeneröffnungen in Midtown, wo wir mit einigen Gläsern Sekt auf Marens letzten Abend angestoßen hatten. Wie immer hatte man die Party von jetzt auf gleich beendet. Fünf Minuten zuvor hatten die Gäste noch zu Popsongs aus den Achtzigern getanzt. Die Gläser waren voll, die Stimmung ausgelassen. Dann ging ruckartig das Neonlicht an, die Musik verstummte, und alle wurden nachhause geschickt. Das passierte in New York auf jeder Veranstaltung, sobald kostenlose Getränke ausgeschenkt wurden. „Vom Ausklingenlassen halten die hier anscheinend nichts“, sagte Maren. „Man soll halt gehen, wenn’s am Schönsten ist, oder?“, versuchte ich, die New Yorker Eigenheiten mal wieder halbherzig zu verteidigen.
Der Schwips hatte uns aufgezogen wie kleine Blechspielzeuge. Wir marschierten Richtung Central Park durch die milde Nacht, schauten in die erleuchteten Schaufenster der luxuriösen Läden auf der menschenleeren 5 th Avenue. In einigen Eingängen hatte es sich der eine oder andere Obdachlose gemütlich gemacht. „Schon komisch, dass Arm und Reich hier so eng nebeneinander leben“, seufzte Maren. „Den Reichsten von allen haben die New Yorker sogar zum Bürgermeister gewählt“, antwortete ich.
Mayor Michael Bloomberg hatte mit
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