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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Sieger
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und Decke an Decke an Decke wurde ein Riesenpicknick veranstaltet. Weinflaschen wurden entkorkt, den fremden Nachbarn zugeprostet. Ich holte Nudelsalat und eine große Tüte Trauben aus meiner Tasche, die ich noch schnell in der Mittagspause gekauft hatte. Noelle packte mexikanische Chips, würzige Salsa und ein Flasche Weißwein aus. Unser Nachbar lieh uns seinen Korkenzieher und stellte sich vor: „Hey, ich heiße Ian, schön, euch kennenzulernen. Das hier ist meine Arbeitskollegin Cynthia.“ Er trug einen grauen Anzug mit gelockerter Krawatte, sie ein schwarzes Kostüm. „Wir arbeiten bei der Chase Bank, und was macht ihr?“, fragte er. Und schon waren wir ins Gespräch vertieft und hatten fünf Minuten später zwei neue Visitenkarten in der Tasche.
    Zuhause auf meinem Schreibtisch wuchs der Visitenkartenstapel von Woche zu Woche. Ich brachte es einfach nicht übers Herz, anderer Menschen Kontaktinfo im Müll zu entsorgen. Andererseits konnte ich fast keiner Karte mehr ein Gesicht zu ordnen. Das lag nicht nur an meinem schlechten Gedächtnis. Sondern daran, dass man bei jeder flüchtigen Begegnung, ob man wollte oder nicht, eine Visitenkarte in die Hand gedrückt bekam. Mit einer Vehemenz, als wenn tatsächlich jeder mit einem Anruf rechnete. Auch wenn ich genau wusste, dass die Visitenkarten nie zumEinsatz kommen würden, ließ ich den Stapel weiter wachsen.
    Es fing langsam an zu dämmern. Die Leinwand flimmerte, und ein Bugs-Bunny-Cartoon begann. „Kennst du Bugs Bunny?“, fragte Noelle. „Klar, der gehört auch zur deutschen Kindheit“, flüsterte ich zurück. Bugs Bunnys Stimme hallte zwischen den Hochhäusern. Dann wurde ein HBO-Trailer eingespielt. Der Privatsender war offizieller Sponsor der „Movie in the Park“-Sommerserie. Plötzlich sprangen alle auf, jubelten, ruderten mit ihren Armen in der Luft, fingen wild an zu tanzen und zu singen. Ich blieb als Einzige auf meiner Decke sitzen und sah dem Spektakel irritiert zu. Noelle beugte sich zu mir runter: „Der Tanz ist Tradition. Wir haben den Titelsong schon als Kind im Fernsehen zu hören bekommen.“ Als sich alle wieder beruhigt hatten, auf ihre Decke zurückgekehrt waren und man so langsam ein paar Sterne am Himmel funkeln sah, begann der Film: „Der Mann, der zu viel wusste“ von Alfred Hitchcock.
    So ging der Sommer weiter. Die Parks wurden zu Kulturwiesen. Einige Tage später hatte ich mich mit Valerie und Jonathan zur „Met in the Park“ verabredet. Die Metropolitan Opera führte schon seit 1967 jeden Sommer einige Stücke im Central Park auf. 50 000 Zuschauer strömten an diesen Abenden zur „Great Lawn“.
    Madame Butterfly von Puccini stand auf unserem Programm. „Halt Ausschau nach den schwarz-rot-gelben Luftballons, dort sitzen wir und warten auf dich“, so Jonathan. Typisch. Er fand es lustig, mich mit den Farben der deutschen Nationalflagge aufzuziehen, nachdem ich ihm in epischer Breite erklärt hatte, dass wir Deutschen in der Regel dafür nichts übrighatten – wenn nicht gerade der World Cup stattfand.
    Wir saßen auf der riesigen Wiese. Vor uns derakustische Wirrwarr der Musiker, die sich warmspielten. Über uns der endlose Himmel. Ein seltener Anblick in Manhattan. In den vorderen Reihen saßen die hübsch zurechtgemachten Musikliebhaber. Wir waren mit Jeans und T-Shirt aufgetaucht. „Vorne sitzen schweigend die Connaisseure, hinten quatschende Laien wie wir“, bemerkte Valerie.
    „Sag mal, kennt einer von euch einen guten Dermatologen, den ihr empfehlen könntet?“, fragte ich, da ich mal wieder meine Muttermale checken lassen wollte. „Ich bin nicht mal versichert“, erwiderte Jonathan trocken. „Du bist nicht versichert?“, wiederholte ich fassungslos. „Ich auch nicht“, sagte Valerie. „Aber was ist, wenn ihr von einem Auto angefahren werdet? Oder eine Blinddarmentzündung habt, oder, oder, oder ...“ Eine Flut potentieller Horrorszenarien überkam mich. „Von meinen Freunden ist fast niemand versichert. Das ist einfach viel zu teuer“, sagte Val pragmatisch. „Ich würde mich nicht mehr aus dem Haus wagen“, entgegnete ich. „47 Millionen Amerikaner sind nicht versichert, und davon gehören viele zum Mittelstand. Da Arbeitgeber nicht verpflichtet sind, ihre Arbeitnehmer zu versichern, schrecken viele davor zurück, die hohen Beitragskosten selbst zu übernehmen, und leben lieber mit dem Risiko“, erzählte Jonathan. „Wisst ihr, dass bei uns sogar Arbeitslose vom Staat versichert

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