Ein Jahr in New York
orientierungslos durch den imposanten Prachtbau, vorbei am Tempel von Dendur, an Glasvitrinen mit kostbaren Waffen aus dem Mittelalter, griechischen Skulpturen und Meisterwerken von Monet, Rembrandt und Cézanne, auf der Suche nach einer temporären Ausstellung des deutschen Fotografen Thomas Struth. Inmitten von zwei Millionen Ausstellungsstücken war dieses Unterfangen eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Als wir eines Tages im East Village am Tompkins Square Park vorbeischlenderten, erzählte ich Maren, dass in dieser Gegend mal „Little Germany“ hieß, auch Kleindeutschland genannt. Im Gegensatz zu den anderen, meist mittellosen Immigranten kamen viele Deutsche, die Mitte des 19. Jahrhunderts nach New York auswanderten, aus der Bildungsschicht. Dementsprechend schnell florierte damals die Neighborhood. Es wurden Handwerksbetriebe, Bäckereien und sogar Biergärten eröffnet. „Und dann löschte ein absurdes Seeunglück auf einem Schiff namens ‚General Slocum‘ Anfang des letzen Jahrhunderts die ganze Gemeinde aus“, sagte ich zu Maren, als wir im Lokal „Zum Schneider“ saßen. Das Restaurant war einer der letzten Hinweise auf die deutsche Vergangenheit. Ich flüsterte plötzlich, weil ich den Verdacht hatte, dass unsere Nachbarn mithörten. Nicht, dass ich etwas zu verbergen hatte. Aber von Amerikanern umgeben, hatte ich mir angewöhnt, ohne Anstandsfilter draufloszuplappern. In der Annahme, die verstehen uns eh nicht. Eine möglicherweise fatale Fehleinschätzung.
Als die Bedienung uns weißen Spargel mit Salzkartoffeln auf den Tisch stellte und uns auf Deutsch einen „Guten Appetit“ wünschte, war das Schiffsunglück auf der „General Slocum“ schon vergessen. Weißer Spargel, muss man wissen, war eine kostbare Rarität, die man in New York nur auf den heimischen Speisekarten deutscher Lokale fand.
„Hier war der rechte Arm der Freiheitsstatue, der mit der Fackel, fünf Jahre lang zwischengeparkt und lag einfach am Straßenrand. Bis zur Eröffnung 1886“, erzählte ich Maren, als wir zufällig am Madison Square Garden vorbeiliefen. Die Stadt war damals bankrott und hatte kein Geld, den Sockel für die Statue bereitzustellen. Die nötigen 100 000 Dollar wurden letztendlich aus Kleingeldspenden der Bürger zusammengekratzt.
Als wir im Battery Park auf der Bank saßen, Sushi aßen und auf die Freiheitsstatue blickten, fuhr ich fort, erzählte, dass sie ein Geschenk der Franzosen war, dass Eiffel das Skelett baute und eine Frau namens Emma Lazarus die berühmten Worte schrieb, die bis heute nachhallen:
„Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten: Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen, hoch halt’ ich mein Licht am gold’nen Tore.“
Maren machte mich im Gegenzug auf die zugemüllten Bürgersteige aufmerksam. Auf den entsetzlichen Lärm, mit dem die U-Bahn am Union Square in die Station einfuhr und den Krach der immerzu jaulenden Kranken- und Feuerwehrwagen. Auf die lauten amerikanischen Mädchen, die im Restaurant kreischend am Nachbartisch saßen. Auf das Leitungswasser, das ganz schlimm nach Chlor schmeckte. Auf die großen Benzinfresser, mit denen sich hier jeder durch die Stadt drängelte, anstatt umweltfreundlichere Modelle wie Golf oder Mini zu fahren. Darauf, dass die in den Gehweg einbetonierten Bäume ein ziemlich tristes Leben führten.
Sie machte mich darauf aufmerksam, dass ich den Abstand verloren hatte. Ich war hin- und hergerissen.
Shoppen gingen wir natürlich auch.
Maren und ich hatten kaum die Tür geöffnet, als die junge blonde Verkäuferin uns entgegenrief: „O my God, deine Stiefel sind soooo cute!“ Im nächsten Laden waren es Marens Schuhe, die eine Lawine an Komplimenten auslösten. Dann mein schwarzer, völlig schlichter Mantel. „Denken die Amerikaner, dass Komplimente die Shopping-Hormone in die Höhe treiben?“, wunderte sich Maren.
„O wie hübsch, das ist genau Ihr Stil“, lächelte eine Verkäuferin, als ich mit einem weißen Kleid aus der Umkleide trat. Da diese mich erst seit einer Minute kannte, glaubte ich lieber meinem mir vertrauten Spiegelbild. In dem Kleid sah ich zweifelsfrei aus wie eine übermüdete Krankenschwester.
In New York beugt sich irgendwann jeder dem kategorischen Imperativ des Kaufens. Die Amerikaner sind Meister der Konsumentenverführung. Irgendwo in New York findet nämlich immer ein Sale statt, saisonale
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