Ein Jahr in New York
sahen eine ganze Stunde lang kein einziges englisches Wort. Hier befand sich die größte Ansiedlung von Chinesen außerhalb Asiens. Geschätzte 350 000, davon viele illegale Immigranten, hausten hier auf engstem Raum in den Mietskasernen der Jahrhundertwende. Das eigentliche Leben fand auf der Straße statt: In den Fenstern brutzelten aufgespießte, braun gebrannte Hühnchen, Obst und Gemüse stapelten sich auf den Bürgersteigen, und in der Luft hing ein wilder Aromenmix aus Fisch, Ingwer, getrockneten Kräutern und Lebensmitteln, deren Identität wir nicht mal erraten konnten. Auf dem Chinatown Plaza saß eine Gruppe chinesischer Frauen in der Sonne und meditierte im Schneidersitz, die Männer machten Tai-Chi. Bei „Pearl River“ stöberten wir stundenlang durch die Regale, kauften kleine Plastik-Buddhas, bunte Papierlaternen und hübsche Reisschälchen. Auf der Canal Street wehrten wir tapfer die Straßenhändler ab, die über uns herfielen, um uns die gefälschten Designer-Handtaschen von Louis Vuitton und Luxusuhren von Cartier anzudrehen.
Wir gönnten unseren erschöpften Füßen für zehn Dollar eine Reflexzonenmassage. Danach hatten wir Hunger. „Lass uns Dim Sum essen gehen“, schlug ich vor. Dim Sum ist Brunch auf Chinesisch: Man isst stundenlang lauterkleine Spezialitäten. Vanessa hatte mir schon oft vom „Golden Unicorn“ vorgeschwärmt, also machten wir uns auf den Weg.
Die Aufzugtür öffnete sich in die erste Etage, und wir standen in einem riesigen Bankettraum, in dem chinesische Großfamilien an runden Tischen auf Stühlen mit Plastikschonern saßen. Über dem lauten Geplauder hingen kitschige Kronleuchter. Schmucke Dekoration für die vielen chinesischen Hochzeiten, die in den Dim-Sum-Palästen gefeiert wurden. Statt Tageslicht strahlten Neonröhren, da schwere Vorhänge die Fenster blockierten. Die vielen jungen Kellner in roten Uniformen schoben doppelgeschossige Rollwägelchen vor sich her, auf denen sich kleine, runde Bambuskörbchen und Tellerchen stapelten. Wie am Fließband rollten sie ohne Unterlass an den Tischen vorbei. Die Kellner hoben die Deckel, die Gäste stapelten sich gezielt dampfende Frühlingsröllchen, geröstete Entenfüße, frittierte Fischbällchen oder Quallenfilet mit Minzsoße auf ihre Teller. Wir hingegen hockten eingeschüchtert, unfähig, eine Entscheidung zu treffen, mitten in diesem Wirrwarr an Stimmen, Gerüchen und exotischen Speisen und tranken erst mal eine Tasse grünen Tee, die unaufgefordert vom Kellner nachgefüllt wurde. „Vielleicht hätten wir doch besser mit Vanessa hier herkommen sollen. Ohne einen Experten, der einen durch diesen befremdlichen Häppchendschungel navigiert, ist man ganz schön aufgeschmissen“, gab ich zu. Ich versuchte unserem Kellner zu erklären, dass ich kein Fleisch aß. „Vegetarian, noooooo“, sagte er, hob verständnislos seine Augenbrauen, drehte sich um und flüchtete. Maren begann sich mutig an den vorbeifahrenden Spezialitäten zu bedienen, und auch ich fand unter all den Deckeln ein paar gedünstete Gemüsetaschen, chinesischen Brokkoli und vegetarische Frühlingsrollen.
„Man darf gar nicht daran denken, wie viele chinesische illegale Immigranten hier im Hintergrund schuften“, sagte ich zu Maren, während der Kellner anhand unserer leer geputzten Tellerchen eruierte, wie viel wir bezahlen mussten. Neulich hatte ich gelesen, dass die Schmuggel-Mafia von den Flüchtlingen bis zu 70 000 Dollar verlangte. Wenn das Glück auf ihrer Seite stand und sie nach der manchmal hunderttägigen Schiffsreise tatsächlich hier strandeten, kannten sie meist keine Menschenseele, sprachen nicht ein Wort Englisch und wurden umgehend vom illegalen Untergrund Chinatowns verschluckt. Von dort gelangten sie in die Spülküchen, die kleinen Massageläden und Sweatshops, in denen sie für einen Hungerlohn „I love NY“-T-Shirts nähten. Chinatown platzte aus allen Nähten und verleibte sich Haus für Haus das benachbarte Little Italy ein. Aber rund um die Mulburry Street gab es noch einige grün-weiß-rot gefärbte Straßenzüge, in denen sich Touristen tummelten und sich ein italienisches Restaurant an das nächste reihte. Vor der Tür patrouillierten italienische Kellner in billigen Anzügen, die versuchten, uns in die Lokale zu locken, indem sie die fotografierten Pastaspezialitäten der Karte anpriesen. Die Hochsaison in Venedig war harmlos dagegen.
Noch am selben Nachmittag verirrten wir uns im Metropolitan Museum. Liefen
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