Ein Jahr in New York
wollten sich das Feuerwerk in dem kleinen Park an der Grand Street am Ufer des East River anschauen, die anderen wollten aufs Dach, wieder andere ganz woandershin. Valerie versuchte, unser Grüppchen zusammenzuhalten, ich blies hektisch die Kerzen aus. „In fünf Minuten geht’s los. Beeilt euch!“, rief Jonathan und rannte schon in Richtung East River. Noelle blieb einfach bewegungslos am Tisch sitzen, ins Gespräch mit ihrem Freund Frank vertieft. Vanessa war ins Badezimmer verschwunden und bestand darauf, in letzter Minute noch ihre Zähne mit Zahnseide zu reinigen. Ich wusste, dass Amerikaner süchtig nach Zahnseide waren. Aber ausgerechnet jetzt? Konnte das nicht noch ein bisschen warten? „Nein, sonst denke ich die ganze Zeit darüber nach, was mir noch zwischen den Zähnen hängt.“ So genau wollte ich es gar nicht wissen. Der Einzige, der nicht von meiner Seite wich, war Ian.
Pünktlich zum ersten Knall standen wir dann doch alle am Ufer. Halb Williamsburg war hier versammelt. Valerie hatte nicht zu viel versprochen. Am dunklen Sommerhimmel flogen Sternschnuppen, schillernde Formationen und ein buntes Farbspektakel durch die Luft. Flimmernde Schmetterlinge, glitzernde Smileys, berstende Kometen und wie Edelsteine funkelnde Kreise rieselten vor der Skyline nieder. Eine dramatische Inszenierung. Und allein der Kulisse wegen ein magischer Anblick. Und das Beste: Es hörte gar nicht mehr auf. Immer wenn es so aussah, als würden die Feuerwerkskörper zum finalen Endspurt aufbrausen,knallte es einfach weiter. 120 000 Explosionen entlockten den New Yorkern etliche „Ahs“ und „Ohs“. Auch mir, denn dieses Schauspiel war schöner, dramatischer und fantasievoller als alle Neujahrsfeuerwerke, die ich bisher erlebt hatte.
Am nächsten Morgen wachte ich auf und stellte verwundert fest, dass ich noch komplett bekleidet war. Eindeutig zu viel Bowle, dachte ich auf dem Weg ins Badezimmer. Dann sah ich den wahren Grund. Er lag schlafend auf der Coach: Ian. Vage erinnerte ich mich an eine Diskussion, in der er mir mutig zu verstehen geben wollte, dass für ihn nun alle Weichen gestellt seien. Für die erste gemeinsame Nacht. Ich behauptete, viel zu viele Gläser Bowle getrunken zu haben, und bestand darauf, dass er auf dem Sofa übernachtete. Anstatt ihn gleich nachhause zu schicken! Sicherheitshalber hatte ich daraufhin meine Klamotten anbehalten. Ich musste konkreter werden.
Ich löste das Problem amerikanisch und hob in der darauf folgenden Woche einfach nicht mehr mein Telefon ab, wenn Ians Nummer im Display erschien. Valerie hatte mir dazu geraten. Ich fühlte mich ziemlich schlecht dabei. Aber: Es funktionierte. Nach fünf Tagen verstummte mein Telefon und ich sah Ian nie wieder.
Auf die erste Erleichterung folgte eine Sehnsucht. Nicht nach Ian. Aber irgendetwas fehlte. Mir war ganz melancholisch zumute. Warum verliebte man sich immer in die Falschen? Oder die Falschen verlieben sich einen. Mich überkam ein Anflug von Selbstmitleid gepaart mit Heimweh. Wie gerne hätte ich diesen sentimentalen Weltschmerz jetzt mit einer guten Freundin ausdiskutiert und mit vielen Gläsern Rotwein runtergespült. Nicht mal anrufen konnte ich. Es war acht Uhr abends in New York und die Hamburger lagen längst im Bett.
Um das Heimweh zumindest zeitweilig zu lindern, fuhr ich am nächsten Tag in der Mittagspause mit der U-Bahn weit hoch in die Upper East Side. Ich öffnete die Tür und stand auf deutschem Boden. „Schaller und Weber“ war ein deutscher Metzger auf der 2 nd Avenue an der 86. Straße, der sich die Aura eines Tante-Emma-Ladens bewahrt hatte. In den Regalen stapelte sich die greifbare Heimat: Brandt Zwieback, das goldene Rübenkraut, Kinderschokolode, Maggi, 4711, Bahlsen Butterkekse, Haribo Lakritzschnecken und Gummibärchen, Salmiakpastillen, Dallmayr Kaffee – alles, was das deutsche Herz begehrte. Ich ging zur Theke, wo der Metzger meine Bestellung hinter einem Vorhang von Würstchen entgegennahm: Eine Portion Kartoffelsalat, bitte. Dieser schmeckte fast so wie von Muttern. Mit einer schweren Tüte deutscher Heimwehkiller und einem Erfrischungsstäbchen im Mund verließ ich den Laden. „Auf Wiedersehen, Fräulein!“, rief man mir auf Deutsch hinterher, und ich fühlte mich gleich ein bisschen weniger heimatfremd.
Blieb nur noch das Selbstmitleid.
Darüber tröstete ich mich mit einem teuren Haarschnitt hinweg.
„Im Meatpacking District gibt es diesen tollen Salon von Bumble & Bumble“, empfahl
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