Ein Jahr in New York
Tag den Müll runterbringen“, beschwor mich Valerie. Kein Problem. „Ich verstehe allerdings nicht, warum die Sorte hier ‚German Cockroach‘ genannt wird. In Deutschland habe ich noch nie eine Kakerlake gesehen.“Ich hielt diese Benennung für einen groben Irrtum oder eine Verleumdung und hatte das Bedürfnis, die irreführende Assoziation richtigzustellen. Meine erste Begegnung mit den widerlichen Insekten hatte ich dann nicht in unserer Wohnung, sondern völlig unerwartet im sterilen Rockefeller Center. Ich saß an meinem Schreibtisch, als mich plötzlich etwas am rechten Fuß kitzelte. Ich schaute runter. Ja, ganz richtig, da huschte mir tatsächlich gerade eine Kakerlake über die Zehen. Ich unterdrückte einen Impulsivschrei und schaffte es sogar, die flitzende Kakerlake mit einem leeren Schuhkarton festzusetzen. Valerie hatte mich gewarnt: „Falls du eine siehst, bloß nicht zerquetschen! Dann verteilst du die ganzen Eier und danach ist die Kakerlakeninvasion nicht mehr aufzuhalten.“ Also schob ich vorsichtig das Fenster hoch und ließ die Kakerlake 26 Stockwerke in die Tiefe stürzen. Wie wir alles wissen: nicht in den Tod, denn das unzerstörbare Biest hat den Fall sicherlich überlebt.
Ein paar Tage später blickte ich gerade von meinem Bildschirm hoch, als direkt vor meinem Bürofenster ein zitronengelber Schmetterling flatterte. In den grauen Betonschluchten Midtowns ein leuchtendes Stück Natur fliegen zu sehen ließ mein Herz hüpfen. Das war New York. In den am wenigsten erwarteten Momenten poetisch und immer wieder fähig zu überraschen.
Genauso erstaunt war ich, als ich eines Nachts von leisem Getrappel aufwachte. Also doch Kakerlaken, war mein erster Gedanke. Aber irgendwie klang dieses Geräusch fast menschlich. Ich hielt den Atem an, stand auf und schlich auf Zehenspitzen in die Küche. Plötzlich hörte ich etwas von links auf mich zurennen, mein Herz blieb einen Augenblick stehen, als etwas Hundgroßes aus dem offenenKüchenfenster in den Garten sprang. Ein Waschbär! Ich freute mich wie ein kleines Kind, das den Nikolaus ertappt hatte, legte mich wieder ins Bett, schlief sofort ein und hatte die nächtliche Begegnung am nächsten Morgen kurzfristig wieder vergessen. Bis ich im Badezimmer auf dreckige Fußspuren an der Klobrille stieß. „In Williamsburg herrscht gerade eine Waschbär-Plage. Die kleinen Kerle greifen Katzen an, wüten durch die Mülltonnen und Gärten“, erklärte Paula, als ich ihr ordnungsgemäß Bericht erstattete. Deshalb kam noch am selben Tag jemand von der Stadt, stellte eine Falle auf und beförderte das niedliche Pelztier wieder in die Wildnis. Ich wunderte mich, dass selbst Waschbären lieber in diesem Großstadtwirrwarr hausten als friedlich im Wald.
Nachdem ich Justin immer wieder von meinen Natur-Entzugserscheinungen vorgejammert hatte, überraschte er mich eines Abends mit einem Zelt. Das hatte er auf seiner Dachterrasse aufgebaut, mit den Worten: „Wir tun einfach so, als wenn wir irgendwo mitten im Grünen zelten würden.“ Ich war gerührt und spürte, wie mir ein Glücksgefühl den Rücken emporkroch. „Ich bin sicher die erste Frau, deren Herz du mit einem Zelt erobern konntest“, grinste ich. So ganz konnten wir der urbanen Bequemlichkeit dann doch nicht widerstehen und ließen uns indisches Curry und eiskalte Mango-Lassi zum Zelt liefern. Wir versuchten, die schwach schimmernden Sterne ausfindig zu machen, und tasteten uns in die unbekannte Vergangenheit des anderen vor. Ich schwärmte von meinem Backpacker-Trip nach Ecuador, er erzählte mir von seinem letzten Surfurlaub in Panama. In dieser Metropole an einen Naturburschen geraten zu sein stimmte mich sehr froh. Statt zirpender Grillen jaulten im Hintergrund die Sirenen eines Krankenwagens.Trotzdem war die Situation an Romantik kaum zu überbieten. So verbrachte ich meine erste New Yorker Nacht unter freiem Himmel. Schwitzend, aber glücklich. Genau hier wollte ich sein und nirgendwo anders.
September
D IE KLEINE R OMANZE mit meinem Amerikaner war sicher nicht der einzige Grund, warum man in Deutschland anfing, über meine Rückkehr zu spekulieren. Meine Freunde und Familie hatten begonnen, in der üblichen Frage – „Wann kommst du wieder zurück?“ – ein Wort auszutauschen. Die neue Version am Telefon lautete: „Kommst du überhaupt wieder zurück?“ In der Frage schwang die befürchtete Antwort gleich mit. Eine Vermutung, die nur bestätigt werden wollte. Unentschlossene
Weitere Kostenlose Bücher