Ein Jahr in New York
ließ meine Gedanken durch die letzten zwölf Monate wandern. Dachte an die vielen lauen Sommerabende. An die jaulenden Sirenen, die hier zur Geräuschkulisse gehörten wie andernorts die Kirchenglocken. Die Begegnungen und Zufallsgespräche mit Fremden, die teilweise zu Freunden geworden waren. Daran, dass hier zu jeder Tages- und Nachtzeit alles möglich war – „anything goes“ war das
Motto, anstatt nach deutscher Manier erst mal alles skeptisch
auf Risiken und Nebenwirkungen abzuklopfen. Valerie
hatte Recht, ich wusste, dass meine Situation in New
York ein wertvolles Privileg war. Nicht jeder hatte die glückliche
Qual der Wahl. Von den 2,9 Millionen Immigranten
in dieser Stadt war jeder sechste illegal. Und die hatten für
New York ihre Heimat aufgegeben. Endgültig. Für immer.
Nicht wie ich, temporär und mit der Garantie, jederzeit hin- und
herfliegen oder gar -ziehen zu können. Ich hatte ein
Journalistenvisum, das ich je nach Laune und ohne große
Mühen und Anwaltshonorare verlängern konnte. Die vielen
Menschen ohne Visum hatten nur ein einziges Mal die
Wahl. War die Grenze in die Staaten einmal illegal überquert,
mussten sie bleiben oder konnten nie wieder zurück.
Hierbei handelte es sich nicht um eine statistische Dunkelziffer,
sondern um Menschen, denen ich Tag für Tag begegnete:
Alia aus Mali, der ich meine Wäsche anvertraute, begrüßte jeden Kunden mit Namen und schaffte es immer wieder, dass man ihren sieben Tage die Woche geöffneten Laden nicht nur mit sauber gefalteten T-Shirts, sondern auch mit guter Laune verließ. Sie hatte ihr Heimatdorf in Westafrika, die Familie und Freunde schon seit zehn Jahren nicht mehr besucht und wartete darauf, dass ihr Anwalt endlich den Bürokratenkram bewältigte. „Eigentlich wollte ich nur ein Jahr bleiben, aber mittlerweile ist New York mein Leben“, fügte sie eilig hinzu, nachdem sie mir ihr Heimwehherz ausgeschüttet hatte.
Oder Anna, die kubanische Putzfrau, die spät abends unsere Büroräume sauber machte, tagsüber in Privathäusern putzte und uns jedes Jahr zu Weihnachten kubanischbekochte. Sie schickte der auf der kommunistischen Insel zurückgebliebenen Verwandtschaft schon seit Jahren ihre Ersparnisse. „Ich vermisse Kuba, aber New York ist Zuhause“, sagte sie in ihrem charmanten Spanenglisch.
Auch für Antonio, mit dem ich oft plauderte, wenn ich spät abends im Bodega noch irgendetwas einkaufen ging, gäbe es bei einem Heimatbesuch kein Zurück mehr. „Ich komme aus Ecuador“, grinste er stolz und offenbarte seine Goldzähne, als ich nach seiner Nationalität gefragt hatte. Vor fünfzehn Jahren hatte der mittlerweile Fünfzigjährige seine Frau und seine beiden damals kleinen Söhne illegal eingeschmuggelt. Und seine Eltern? Die hatte er seitdem nicht mehr gesehen. „Irgendwann möchte ich gerne wieder zurück“, erzählte er. „Aber dann muss ich mich für immer von meinen Kindern verabschieden. Die wollen hier bleiben. New York ist ihre Heimat.“ Hier war sie, die Zwickmühle, in der so viele steckten.
So hat jeder seine ganz eigene Geschichte mit nach New York gebracht. Aber eins trugen sie alle gemeinsam im Herzen: den „American Dream“. Den Traum, der versprach, dass man hier mit harter Arbeit alles im Leben erreichen konnte. Dafür hatten sie ihre Eltern und Freunde zurückgelassen. Hatten Jobs angenommen, für die sie überqualifiziert waren. Hatten sich in ein Land gewagt, in dem sie keiner verstand. Weder ihre Sprache, noch ihre Kultur. Sie waren gefangen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. War es das wert? Offensichtlich. Laut einer Studie bleiben dreiviertel aller Immigranten dauerhaft.
„Arbeiten die illegalen Immigranten eigentlich alle schwarz?“, fragte ich Valerie, als wir uns am nächsten Abend beim Mexikaner über das Thema unterhielten. Mit ziemlicherSicherheit wurden unsere Burritos gerade von einem illegalen Landsmann in der Küche zubereitet. „Nein, das ist das Paradoxeste, die meisten Illegals bezahlen sogar Steuern, jedes Jahr mehrere Milliarden! Sie besorgen sich auf dem Schwarzmarkt für ein paar hundert Dollar gefälschte Sozialversicherungsausweise samt gefakter Green Card, müssen dann wie alle anderen ihre Sozialabgaben bezahlen, obwohl sie letztendlich natürlich keinerlei Ansprüche auf irgendwelche Leistungen erheben können“, seufzte sie und dippte einen Chip tief in die Guacamole.
Die Existenz aller in Amerika lebender Menschen basierte auf der Social Security Card. Ohne
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