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Ein Jahr in Paris

Titel: Ein Jahr in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silja Ukena
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Dichterin Gertrude Stein, deren Leben alles andere als bürgerlich war, besaß einen, der auf den Namen Basket II hörte. Mit ihm spazierte sie in den 1920er Jahren des Nachmittags die Rue de Rennes hinauf. Allerdings war Basket ein riesengroßer Königspudel und entsprach somit nicht ganz dem typischen Pariser Toutou 13 . Es sind übrigens nicht immer echte Pudel. Vielmehr ist das Pudelsein eine Geisteshaltung.
    Falls es ihre Größe erlaubt, werden die Toutous getragen, seitlich unter den Arm geklemmt, wie ein lebendes Handtäschchen. Von dieser Warte aus äugen sie dann in der Regel bösartig in die Gegend und bekläffen alles, was Frauchen zu nahe kommt. Es ist mir rätselhaft, aber jede alte Dame in Paris scheint einen davon zu besitzen. Sie heißen Minou, Daisy oder Fifi. Oder eben Lülü. Sie helfen gegen die Einsamkeit.
    Auch Lülü ist wie seine Besitzerin nicht mehr der Allerjüngste, und zwischen seinen dünnen Minipli-Löckchen schimmert an manchen Stellen bereits etwas rosige Haut durch. Vielleicht ist er aber auch einfach zu oft gebadet worden, im „Salon du chien“ ein Stück die Straße hinunter.
    Niemand von uns mochte Lülü besonders, zumal er sich bei jeder Gelegenheit auf den armen Kater Paul stürzte, und der konnte ja nun wirklich nichts dafür. Kitty hingegen mochten wir alle. Ihr schauspielerisches Talent war enorm. Sie war in eine Art Blutfehde mit der Concierge verwickelt und konnte dieser das verachtungsvollste „Bonjour MADAME!“ hinwerfen, das je in einer Pariser Concierge-Loge vernommen wurde, um schon im nächsten Moment mit dem süßesten Zwitschern einen Flirt mit Monsieur Delaroche aus dem Ersten zu beginnen. Da sie, eine kleine Aschespur hinterlassend, mehrmals täglich in unserem Flur auftauchte, ergab sich hin und wieder ein kleiner Wortwechsel.

    „Bonjour, ma chère, ça va?“
    „Bonjour Kitty! Oui, ça va. Et toi?“
    „Ah, on s’défend! – Vas chez l’épicier aujourd’hui. Il y a des figues merveilleuses!“ 14

    Allerdings hielt sie sich mit mir nicht länger auf. Auch Jean-Luc bekam von ihr nicht mehr zu hören als: „Sie müssen mehr ausgehen, junger Mann. Sie lesen zu viel! In Ihrem Alter habe ich keinen einzigen Abend am Küchentischverbracht. Glauben Sie mir: Man ist nur einmal jung. Sie werden das bereuen.“
    „Paris kennt nur zwei Alter“, murmelte er dann, Balzac zitierend, „die Jugend und das Greisentum; eine greisenfahle Jugend und ein jugendlich geschminktes Greisentum.“
    Mit Alix dagegen konnte Kitty bei jeder Gelegenheit plaudern. Dann erzählte sie lange Geschichten und kicherte manchmal wie ein junges Mädchen.
    Nur hin und wieder gewährte sie auch mir einen Blick hinter ihre Fassade. So erfuhr ich peu à peu, dass Kitty Tänzerin gewesen war. Mit zehn Jahren hatte sie in der Ballettschule der Pariser Oper ihre ersten Schritte gewagt und fortan ihre Kindheit in der nach Samt, Staub und Puder riechenden Welt des Theaters verbracht. „Ich hatte Waden aus Beton!“, behauptete sie und tippte mit der Schuhspitze ein paar angedeutete Schritte auf das Piceur’sche Parkett. „ Les Étoiles , die Sterne von Paris, nannte man uns. Aber später ging es bergab mit der Opéra. Irgendwann buchten Touristenunternehmen zweihundert Plätze am Abend und tauschten während der Pause die Besucher gegen neue Gruppen aus.“ Sie schnaubte. „Denen ging es nur um das Deckengemälde von Chagall. Was auf der Bühne passierte, war völlig egal.“
    Ich hätte gerne mehr davon gehört, begriff aber schnell, dass Kitty diejenige war, die bestimmte, wie viel sie preisgab. Als ich einmal erwähnte, ich hätte das Gebäude der Opéra Garnier besichtigt, reagierte sie unerwartet heftig: „Das hat Hitler auch gemacht! Wusstest du das? Er war nur drei Stunden in Paris, aber das erste Ziel, dass er ansteuern ließ, war die Oper. Mitten in der Nacht. Der Wächter hat es uns erzählt, als wir am Morgen zum Training kamen. Man hat ihn herausgeklingelt, und dann hat euer Hitler das Haus besichtigt.“
    Ich hatte das nicht gewusst, und der junge Mann, der mich zusammen mit einem Haufen „Look – Great!“ rufender Amerikaner durch den marmornen Säulenwald führte und uns darauf hinwies, dass sich der Bau allein einem missglückten Bombenattentat auf Napoleon III. vor der früheren Oper verdanke, hatte es auch nicht erwähnt. Was ich wusste: dass Adolf Hitler noch kurz vor Kriegsende den Befehl erteilt hatte, ganz Paris in ein Trümmerfeld zu verwandeln. Dass es nicht

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