Ein Jahr in Paris
verwehrt, je an einem anderen Ort zu leben, einschließlich Paris.“
Es war John Ashbery, der von 1955 bis 1965 in Frankreich lebte, und von dem ich kürzlich einen Gedichtband in die Hände bekommen hatte.
Ist es ratsam, nach Paris zu gehen? Ist es überhaupt möglich, eine Antwort auf diese Frage zu finden? Schaut man sich die Biografie der Stadt an, muss man feststellen: Selbst wenn es nicht ratsam ist, haben es immer wieder alle getan. Und darin sind nur diejenigen enthalten, deren Namen man irgendwie für erwähnenswert hält. Es scheint übrigens keine Frage des Charakters zu sein, ob man nach Paris zieht. Heinrich Heine tat es ebenso wie Richard Wagner, der sensible Rilke genauso wie der Berserker Hemingway. (Dies nur als ein winziger, willkürlicher Auszug). Die meisten sind jedoch irgendwann wieder gegangen, ihre Zeit war um. Alle anderen liegen auf Père Lachaise oder Montparnasse.
Nur Paris ist immer noch da und erfindet sich immer wieder neu. Mag Rom die ewige Stadt sein, Paris ist unsterblich. Oder, um es mit dem wunderbaren Enrique Vila-Matas 55 zu sagen: Paris ne finit jamais . Paris endet nie. Für jeden, der nach Paris kommt, wird die Stadt in ein anderes Gewandschlüpfen. Für Hemingway war sie „ein Fest fürs Leben“, ein Ort, an dem er „sehr arm und sehr glücklich war“. Vila-Matas, obwohl er bei Marguerite Duras zur Untermiete wohnte, war dort nur „sehr arm und sehr unglücklich“.
Für Georg wird Paris immer die Stadt sein, „in der du mit einer weißen Mütze im Zoo Ponys fütterst und dich wie eine Schneekönigin freust, wenn du eine Kasse ohne Schlange erwischst.“
„Eine Stadt, die dich auffrisst, wenn du nicht Acht gibst“, meint Gaetano.
Für die Mutter einer Freundin wird Paris zuallererst als die Stadt der späten 1950er Jahre lebendig bleiben, in der sie als 18-Jährige aus der deutschen Provinz entdeckte, wie weit die Welt sein kann und wie viel Platz für fremde Gedanken darin ist.
Für Alix ist es die Stadt, in der sie schon immer gelebt hat. Rien de nouveau . Für Pawel und Lilli dagegen war alles neu. Ihr Paris ist die Stadt der Müdigkeit. Sie kamen mit der Hoffnung auf Freiheit und Anerkennung. Aber über den Preis, den sie würden zahlen müssen, die Überstunden, die schmerzenden Rücken und die schweren Beine, die Einsamkeit und die Vorurteile hatten sie sich keine Vorstellung gemacht. Paris ist die Stadt der Lichter, aber wenn man im Schatten steht, kann es sehr kalt sein.
Jean-Luc wiederum hält Paris für ein gigantisches Museum. Wenn er durch die Straßen geht, sieht er Baustile undEpochen: Louis XIV., Napoléon Bonaparte, Haussmann, die Fünfte Republik, Barock, Empire, Jugendstil, Postmoderne.
So hat jeder seine eigene Geschichte mit Paris. Wenn heute jemand durch Paris ginge und alle Menschen danach fragte, was für sie diese Stadt sei, er bekäme wahrscheinlich 9,6 Millionen Antworten. Zusammengenommen ergeben sie das, was jeder spürt, und das dennoch so schwer zu fassen ist – den Geist von Paris.
Wenn die Dinge unerträglich werden, bleiben immer noch die Ufer der Seine. Auf der Suche nach Erleichterung lief ich durch die Strassen und suchte nach einer Antwort. Es war April, es regnete, die Sonne schien, und an der Metrostation Vavin sang ein Wiedergänger von Serge Gainsbourg: Je t’aime, moi non plus . Der Asphalt war schwarz und glänzte. „Oh, oui je t’aime ... ” sang Serge und ich fragte mich, ob ich hier wahrhaftig glücklicher war als anderswo, oder nur wollte, dass es so wäre.
Von der Seine her wehte mir ein leichter Wind entgegen und kühlte mein Gesicht. Ich stand gegen die steinerne Brüstung des Pont Neuf gelehnt und schloss die Augen.
Da bemerke ich plötzlich, dass ich nicht allein bin. – Es ist die Vernunft.
„Du musst zurück“, sagt sie. „Oder willst du dein Leben lang Dessousverkäuferin bleiben?“
„Ich könnte Baptiste heiraten und drei Kinder bekommen“, schnappe ich zurück. Die Vernunft stöhnt nur. Sie spricht von sozialer Absicherung und Rentenbeiträgen, von Perspektiven und davon, dass mir mein jetziges Leben irgendwann nicht mehr genügen würde.
Mein Herz will das alles nicht hören. Es hat seine eigenen Gründe, die die Vernunft nicht kennt. „Bleib hier“, sagt es und zählt mir auf, was alles fehlen würde:
Nie mehr die nächtlichen Lichter auf der Seine tanzen sehen. Nie mehr mit Gaetano ins „Le Chartier“ gehen und magret de canard essen. Nie mehr ordentliche Baguettes kaufen
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