Ein Jahr in Paris
aus Portugal stammen, war Madame aufrechte Französin. Wie Napoleon III. im Hauskittel thronte sie in ihrer lichtlosen Loge im Erdgeschoss und war recht ungehalten darüber, dass ich ihre morgendliche Lektüre des „Parisien“ unterbrochen hatte. Als sie aber hörte, dass ich die neue Untermieterin von Monsieur Piceur sei, taute das Eis. So ein netter Vermieter, da hätte ich Glück gehabt, undMademoiselle Alix so reizend und so ein anständiges Quartier, auch wenn man in letzter Zeit immer mehr Ausländer im Viertel sehe ...
Ich war sprachlos. Abgesehen davon, dass sie offenbar übersehen hatte, dass ich ja auch eine Ausländerin war, überraschte mich dieser freundliche Rassismus dann doch.
„Niemand ist Rassist“, erklärte Gaetano. „Aber versuch mal, als Nichteuropäer ein Zimmer zu bekommen.“
„Du willst sagen, es ist NOCH komplizierter?“
„Sagen wir so: Die Franzosen sind Meister der Verdrängung. Probleme gibt es nicht, es sei denn, jemand zündet ihr Auto an.“
„Aber es leben Dutzende Nationalitäten in dieser Stadt. Das ist doch paradox.“
„Stimmt. Aber komm mit, ich zeig dir was!“
Wir spielten das alte Spiel. Diesmal ging die Reise zum Parc Monceau.
Der Parc de Monceau ist vielleicht nicht der größte, aber bestimmt einer der schönsten Parks von Paris. Er liegt im 8. Arrondissement. Émile Zola ließ „Nana“ hier wohnen, die aufgestiegene Kurtisane, die mitsamt ihrer verschwenderischen Zeit untergehen würde. Doch die riesigen Villen und prunkvollen Mietshäuser stehen noch heute, und es lebt sich sehr angenehm auf der Plaine Monceau. 1772 glückte hier der erste Fallschirmabsprung der Geschichte, es gibt ein paar pittoreske Renaissance-„Ruinen“– in Wahrheit handelt es sich um ein Fragment des im Jahre 1871 niedergebrannten alten Pariser Rathauses – und der künstliche Wasserfall ist ein äußerst beliebter Hintergrund für Hochzeitsfotos. Ich mag diesen Park vor allem wegen seines „englischen“ Stils, der ausnahmsweise einmal nicht verlangt, alles, was auch nur im Entferntesten nach Pflanze aussieht, zu einer Kugel oder einem Würfel zurechtzustutzen.
„Was siehst du?“, fragte Gaetano, als wir auf der Hauptallee der Abendsonne entgegenspazierten. Was ich sah, schien mir nicht bemerkenswert, man konnte dieses oder ein ähnliches Bild um diese Zeit in beinahe jedem Pariser Park finden: Jogger, die sich auf den asphaltierten Wegen die Knie ruinierten, Rentner mit und ohne Hund, Menschen mit Aktentaschen, die ihre Abendzeitung lieber im Grünen lasen, Studenten, die Nasen in Büchern, und, vor allem, Kinder. Da die Parks der Stadt zu den seltenen Orten gehören, an denen man Kinder halbwegs unbesorgt sich selbst überlassen kann, und die Franzosen im Gegensatz zu uns sich bislang über Nachwuchs keine Sorgen machen müssen, war hier dementsprechend einiges los. Sie taten das, was Kinder so tun: schaukeln, rutschen, Unruhe stiften, das alles jedoch auffallend adrett gekleidet. Kleine Monsieurs, die sich mit Sand bewarfen.
„Ja, ja“, unterbrach mich Gaetano ungeduldig. „Das ist jetzt nicht das Thema.“
Aber da es spät wurde und die Kleinen nach Hause mussten, sah ich es nun auch: Keines dieser Kinder war mit seiner Mutter da. Alle wurden von munter schwatzenden Babysittern in Kinderkarren und auf Dreiräder verladen, und dann fuhren lauter farbige Frauen mit lauter weißen Kindern davon und gaben ein lustiges Bild der europäischen Realität ab.
„Voilà“ , sagte Gaetano. „Und du darfst mich jetzt zum Essen einladen. Ich kenne da einen tollen Kambodschaner in der Rue Thérèse. Auf geht’s. On y va!“
Französisch für Anfänger II
Der Franzose übertreibt. Immer. Er sagt: Je suis crevé! – Ich bin krepiert – und meint: Ich bin müde. Er sagt: Je t’aime und meint nichts Besonderes damit. Er schimpft – auf die Regierung oder den Verkehr – dass man glaubt, er müsse eigentlich sofort auswandern, und wenn ihm jemand den Schirm klaut, dann ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Viertel bald zur Hochburg des organisierten Verbrechens werden wird. Zumal es mit „La France“ sowieso immer weiter bergab geht. Französinnen sind da nicht anders. Falls Ihnen einmal eine begegnet, die sa petite dépression hat, dann steht in der Regel kein Selbstmord zu befürchten, sie hat bloß üble Laune.
Ähnlich ist es mit Urteilen: Filme, Schauspielerinnen, Männer, Modelabels, Musikgruppen, Ferienorte, Nachtclubs – egal was, es ist alles,
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