Ein Jahr in Paris
braucht: die Boulangerie , den Traiteur , die Épicerie , die Fromagerie , einen Schuster, eine Wäscherei, vielleicht einen kleinen Markt. Wie das kleine gallische Dorf einst den Römern leistet das Quartier heute gefühlsmäßigen Widerstand gegen die Autos, die Fremden, die Hitze, die Anonymität, den erhöhten Pulsschlag der Weltstadt – all das, was einem entgegenschlägt, sobald man sich weiter hinauswagt. Selbstverständlich ist und bleibt ein Pariser ein Pariser, doch wirklich zu Hause fühlt man sich nur in jenem Geviert von Straßen, in dem einen der Metzger mit Namen grüßt und der Kioskbesitzer einemdas letzte Exemplar der „Libération“ zurücklegt. 12 Man verlässt diesen Ort, um zur Arbeit zu fahren oder ein Konzert zu besuchen, aber das, was ich mir vorgestellt hatte, dass die Pariser nämlich ständig die vielen großartigen Möglichkeiten nutzen, die ihre Stadt ihnen bietet, geschieht nicht. Als ich mich einmal von Jean-Luc verabschiedete mit den Worten, ich würde in den Jardin du Luxembourg fahren, sah er mich an, als hätte ich ihm soeben mitgeteilt, den Nachmittag am Nordpol verbringen zu wollen. „Wir haben wunderbare Parks hier in der Nähe!“, rief er, an meinem Verstand zweifelnd. Gut, eine Besichtigung , das wäre ein Grund, eine solche Reise anzutreten, die noch dazu auf die andere Seite der Seine führte, aber im Alltag einen derartigen Aufwand zu treiben? Niemals. „Warum macht ihr das?“, fragte ich ihn. „Ihr wohnt in der schönsten Stadt der Welt, aber ihr profitiert gar nicht davon.“
„Eine Frage der persönlichen Ökonomie“, antwortete er nach einer Weile. „Es ist auf Dauer einfach zu anstrengend, zwei Stunden unterwegs zu sein, um eine Stunde irgendwo anders zu verbringen. Du wirst sehen, bald geht es dir genauso.“
Er hatte Recht. Es ist das Phänomen der Metropole: Während die Stadt sich an ihren Rändern beinahe unmerklich immer weiter ausdehnt, wie ein Baum, der Jahr um Jahr seineRinge erweitert, so schränkt sich der Radius des Einzelnen im Laufe eines Lebens immer weiter ein. Je weniger Zeit da ist, weil man arbeitet und Kinder hat und sich sowieso schon täglich an der Supermarktkasse oder auf der Post die Beine in den Bauch steht, desto weniger Energie möchte man in so nervenaufreibende Tätigkeiten wie das Überqueren der Place de la Concorde oder das Besteigen einer überheizten Metro investieren. Vor allem: Wozu, wenn es doch den besten Ziegenkäse der Welt gleich um die Ecke gibt?! Kommt man ein wenig in den Quartiers herum, hat man bald eine lange Liste von Orten, an denen es „den Besten“ zu kaufen gibt. Und natürlich verhält es sich mit Gemüse, Fisch, Wachteln und Croissants nicht anders.
Sie sehen, Paris ist voll von den besten Dingen der Welt, auch wenn ich persönlich sicher bin, dass der großartigste aller Ziegenkäse bei Madame Beddour zu haben ist. Kitty ist da anderer Meinung. Sie schwört auf den Pouligny St. Pierre von Faucheron. Aber bei den Millefeuilles sind wir uns einig. Die kann man nur bei Ladurée in der Rue Royale erstehen. Nirgendwo sonst. Alles andere wäre ein Vergehen am guten Geschmack.
Kitty. Kitty ist unsere Nachbarin. Sie ist eine alte Freundin von Monsieur Jacques und bewohnt eine Etage höher ein „grand studio“ unterm Dach.
Kitty ist das Paris des schönen Scheins par excellence. Auf der Straße ganz Grande Dame , in Wahrheit aber besteht ihr Studio aus zwei winzigen Kammern mit Waschgelegenheit. Begegnet man ihr auf der Rue du Rocher, käme man nie auf die Idee, sie könne sich mit weniger als acht Zimmern zufriedengeben: Chanel auf den Lippen, die einst blonden Haare zu einem kleinen Dutt gezwirbelt, am Arm baumelt Luis Vuitton. In der Hand eine stets gefüllte schwarzeZigarettenspitze, beginnt ihr Tag gegen elf am Vormittag mit einem Gang durchs Quartier.
Um anschließend wieder in ihre eigenen vier Wände zu gelangen, muss sie den Fahrstuhl im Vorderhaus nehmen und dann unsere Wohnung durchqueren. Natürlich könnte sie auch über die Hintertreppe hinauf, aber das schafft sie nicht mehr. Kitty ist weit über achtzig und bereits etwas hüftsteif. Das würde sie allerdings niemals zugeben, sie sagt: „Lülü bekommt Atemnot.“
Lulu – oder vielmehr „Lülü“ – ist Kittys Pudel. Es gibt viele seiner Art in Paris. Paris ist die Hauptstadt der Pudel. Überall, wo man hinblickt, Pudel und Püdelchen. In allen Farben und Größen trippeln sie zierlich angeleint die Trottoirs entlang. Sogar die
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