Ein Jahr in Paris
dazu kam, lag an seinem Statthalter General Dietrich von Choltitz, der sich schlicht weigerte, dieser Anordnung Folge zu leisten.
Zum ersten Mal seit meiner Ankunft spürte ich jetzt von Kittys Seite so etwas wie Misstrauen. Für Jean-Luc und Alix war ich einfach eine Ausländerin, die hier leben wollte, wie so viele andere auch. Kitty jedoch gehörte einer Generation an, die den Krieg gegen Deutschland miterlebt hatte. Trotzdem war sie es, die mich aus der Situation rettete: „Damals habe ich auch mein einziges deutsches Wort gelernt – Kleingeld , so sagt man doch, nicht war? Die Deutschen haben immer viel Wert aufs Kleingeld gelegt.“
Ein Nachmittag im Juli. Die Realität schleicht sich an und wirft mir ein Problem vor die Füße. „Monsieur P. hat angerufen“, teilt Alix mit, während sie in der Küche steht und so tut, als wasche sie ab. In Wirklichkeit lässt sie ein wenig lauwarmes Wasser in den klebrigen Spaghettitopf laufen, kippt einen Viertelliter Palmolive dazu, kreist zweimal mit der Spülbürste darin herum, und dann hat sich die Sache für sie. „Er kommt am Dienstag.“ Wenn unser Vermieter, den Alix konsequent nur „Monsieur P.“ nennt, anruft, bedeutet das, dass Zahltag ist. Zahltag ist immer dann, wenn Monsieur Lust hat, nach Paris zu kommen. Welches System hinter diesen Besuchen steckt, ist mir noch nicht ganz klar. Meistens ruft erein paar Tage vorher an. Entweder, um uns die Chance zu geben, noch ein wenig aufzuräumen, oder um sicherzugehen, dass auch alle ihre Miete zahlen können. Bar versteht sich. Und damit sind wir bei meinem Problem: Damit das so weitergehen kann, brauche ich über kurz oder lang einen Job.
Alors, ...
„Wir haben das Sortiment nach Farben geordnet, wie Sie sehen. Also Schwarz, Rot und Rosé-Töne auf dieser Seite, da drüben Weiß und Hautfarben. Saisonware auf den Ständern. Und dann nach Marken. Alphabetisch. Aubade, Cris-Cris, Dior, Lejaby, Malizia, Passionata ...“ Mir dreht sich der Kopf. Aber die Abteilungsleiterin schenkt mir keine Sekunde. Sie will in ihr Abteilungsleiterinnenbüro zurück. Dafür hat sie schließlich hart gearbeitet. „Und achten Sie bitte darauf, dass die Kundinnen ihren eigenen Slip anbehalten.“
Also los. Wenn es weiter nichts ist. Ich trage eine Rose im Knopfloch und einen Sticker, auf dem steht: „ Bonjour , ich bin neu hier. Soyez patient/e, s.v.p. “ Ja, haben Sie bitte Geduld mit mir, ich habe nämlich noch nie Unterwäsche verkauft. Genau genommen habe ich überhaupt noch nie etwas verkauft. Aber wenn man noch immer mit dem korrekten Gebrauch des Subjonctif kämpft, sollte man keine allzu hohen Ansprüche stellen. Weiterkommen kann man immer noch. Schließlich hat auch Denise Baudu als kleine Vendeuse begonnnen und siehe, was aus ihr geworden ist. 15
„Unterwäsche ist Vertrauenssache.“ Marie-Line steht auf ihrem Schild. Sie soll mich einarbeiten, nachdem Madame Abteilungsleiterin sich verabschiedet hat. „Es ist ganz einfach: Du gibst ihnen das Gefühl, ihre beste Freundin zu sein und sie gleichzeitig mit den Augen eines Mannes anzusehen. Die meisten Frauen haben ein Problem mit ihrem Körper. Du musst ihnen die Befangenheit nehmen. Jede hat irgendetwas, das schön an ihr ist. Mach ihnen das klar, und du hast gewonnen. Vor allem, wenn sie verheiratet sind.“ Wieso gerade dann? „Ach, Liebchen, daran merkt man, dass du noch jung bist.“ Später wusste ich es: Es kommt immer der Punkt, an dem eine Frau bereit ist, jeden Preis für ein paar Gramm Spitze zu bezahlen.
Marie-Line ist genau richtig hier. Weder zu jung noch zu hübsch, unauffällig gekleidet und in gewisser Weise absolut neutral. Sie ist klein und ein bisschen füllig und hat runde blaue Babyaugen. Man hat das Gefühl, sich jederzeit an ihre Brust werfen und alles Unglück dieser Welt herausheulen zu können. Aber blöd kommen darf ihr niemand, und wenn es doch jemand versucht, dann kann er (oder sie) was erleben. Diese Vorstadtgräfin mit der Hermès-Tasche zum Beispiel, die uns seit einer Dreiviertelstunde auf Trab hält und einen Riesenaufstand macht, weil angeblich alles „zu klein“ ausfällt. Was irgendwie unsere persönliche Schuld ist. „Ein 46er Hintern passt nun mal nicht in Größe 42!“, knurrt Marie-Line, rafft ein paar Teile zusammen und verschwindet mit honigsüßem Lächeln in der Kabine. Ein paar faustdicke Lügen später verlässt die Kundin unseren Bereich im Neubesitz einer unglaublichen Korsage, die sie aussehen lässt
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