Ein Jahr in Paris
paar Bilder zu stellen und mangelnden Duktus zu beklagen. Es hätte mich auch niemand dazu eingeladen. Aber die Pariser sind da sowieso anders. Mag sein, dass ich es idealisiere, aber mir scheint, für sie gehören Kunst und Kultur viel mehr zum alltäglichen Leben, als das in Deutschland der Fall ist. Wann immer man ein Museum betritt, sind mindestens zwei Schulklassen da, die höchst professionell über den Meißelschwung von Aristide Maillol diskutieren, und als ich einmal die Donnerstagabendöffnung einer Matisse-Schau besuchte, stellte ich überrascht fest, dass die meisten Besucher Anzug und Kostüm trugen und offenbar ihren Bürofeierabend hier verbrachten.
Trotzdem ist so eine In-Vernissage etwas anderes. Zum Glück ist Gaetano da, der weiß, wie man sich hier richtig verhält. „Auf keinen Fall zu lange vor irgendetwas stehen bleiben“, sagt er. „Du musst wissen: Dem Kenner genügt ein einziger Blick.“
Die Ausstellung heißt „Les Larmes des poissons dans l’océan“, die Tränen der Fische im Ozean. Im Raum verteilt stehen ein paar Glaskästen, in denen Fischskelette schwimmen.
Sie sind nicht echt. Der Künstler hat sie in akribischer Bastelarbeit selbst gebaut. Auch die Arten, die in seinen Aquarien schwimmen, gibt es in der Natur nicht. Ein Verweis auf die schöpferische Kraft der Kunst. Neben mir sagt jemand zu seiner Begleiterin: „Also, ich finde den Titel nicht korrekt. Fische weinen nicht. Sie haben keine Tränendrüsen.“
Plötzlich taucht Gaetano neben mir auf: „Recht hat er. On y va! “
Bei Alix ist es gerammelt voll. Gegenüber dem Eingang zwinkert uns ein drei mal drei Meter großes Mao-Mädchen mit Zöpfen entgegen. Direkt darunter steht Alix und redet wild auf einen kleinen Dicken mit gelber Hornbrille ein. Die Hitze im Raum hat ihre Wangen gerötet und den Lippenstift an den Rändern leicht ausgefranst. Das macht aber nichts, denn der Dicke starrt sowieso nur auf ihr Dekolleté. Ich beglückwünsche mich heimlich zu meiner gelungenen Verkaufsberatung und schaue mir mit einem einzigen Kennerblick die Bilder des Chinesen an. Die meisten sind schlichte Portraits, an denen dann aber doch etwas anders ist. Der Soldat trägt statt des Parteiabzeichens einen Coca-Cola-Button, die Fabrikarbeiterin eine Gucci-Handtasche – und bei dem Mao-Mädchen blitzt ein roter BH unter dem Einheitskittel hervor. Ich schaue von ihr zu Alix und denke: Der Chinese mag ja Witz haben, aber gegen sie kommt er nicht an. Alix überlässt nichts dem Zufall. In diesem Moment kommt mir wieder einmal zu Bewusstsein, wie meilenweit ich noch immer davon entfernt bin, eine Pariserin zu sein. Und dass es noch eine Menge zu lernen gibt.
Dann hat sie uns entdeckt. Sie lässt den Dicken kurzerhand stehen und steuert nach rechts und links lächelnd auf uns zu. „Enfin! Den bin ich los.“
„Wer war denn das?“
„Pffft! Einer der Kuratoren vom Centre Pompidou. Sie wollen Xing vielleicht für eine Ausstellung zeitgenössischer chinesischer Malerei. Aber ich glaube, er will nur mit mir essen gehen. – Habt ihr euch schon alles angesehen? Ich muss mich leider noch ein wenig um unsere Gäste kümmern.“
Und schon war sie wieder weg. Gaetano amüsierte sich einen Raum weiter im Gespräch mit einem blassen Jüngling. Es blieb mir also allein überlassen, den Künstler ausfindig zu machen, der, seien wir ehrlich, der wahre Grund war, an diesem Abend dort zu sein.
Ich sah mich also nach „dem“ Chinesen um, den ich irgendwo unter all den Gästen vermutete. Und musste dann feststellen, dass es sehr viele waren. – Natürlich leben sehr viele Chinesen in Paris, aber ich hatte sie eben in Belleville verortet, in den Schneiderstuben und den kleinen Läden, in denen lackierte Enten im Fenster hängen.
Später befragte ich Jean-Luc dazu. „Oh ja!“, rief er. „Die Geschichte der asiatischen Einwanderer in Paris ist viel länger und vielschichtiger, als man allgemein annehmen möchte. Die erste große Immigrantenwelle kam schon mit dem Ersten Weltkrieg nach Frankreich. Über zehntausend Chinesen aus der Region Wenzhou wurden damals angeworben, um französische Arbeiter, die an der Front im Einsatz waren, zu ersetzen. Das chinesische Viertel war damals um den Gare de Lyon herum, später im Quartier du Sentier. Der nächste Einwandererschub folgte dann erst wieder in den 80er Jahren, nachdem die chinesischen Kommunisten die Ausreisekontrollen gelockert hatten. Damals sind all die kleinen Schneiderstuben
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