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Ein Jahr in Paris

Titel: Ein Jahr in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silja Ukena
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natürlich nicht landen. Alix versicherte jedoch mehrfach, er verstünde Französisch nahezu perfekt. Ich hatte meine Zweifel, aber unser Vermieter war selig und schenkte nach. Ihm genügte das, und vermutlich wäre Xing sogar mit Sorbonne-Diplom nicht zu Wort gekommen. Monsieur hatte nämlich einst selbst einige Zeit in China verbracht, als „Pionier“ seiner Firma, wie er es nannte, und sein eigentliches Glück an diesem Abend bestand darin, davon berichten zu können.Wie immer war nicht ganz klar, in welchem Jahrhundert er sich bewegte, aber es klang, als habe er den Kaiser noch persönlich gekannt. Jedenfalls begriff ich allmählich, dass all die Holzschnitte, Vasen und Seidenparavents in unserer Wohnung echt waren. Ob deutsche Hausratversicherungen auch im Ausland zahlen würden?
    Xing lachte viel und sagte in regelmäßigen Abständen „Ah, oui“ und „Very interesting!“ Er hatte seine Rolle an dieser Tafel voll und ganz begriffen. Er trug Jeans und Cowboystiefel und ein nagelneues Hemd von Jean-Paul Gaultier. Alix himmelte ihn an, während er brav Jean-Lucs Hasen aß. Wir alle waren froh, heute einmal nicht den Wissensdurst unseres Vermieters zum Thema „die junge Generation und ihre Pläne“ stillen zu müssen. Monsieur war nun voll in Fahrt: „Der Kommunismus ignoriert das menschliche Bedürfnis nach Schönheit! Deswegen wird er nicht ewig sein. Nur das Schöne kann ewig sein! Sehen Sie sich Chartres an, Amien – die Kathedralen! Waren Sie schon einmal in Saint-Denis? Das ist Schönheit, das ist Kunst! Im Kommunismus kann keine Kunst entstehen.“
    „Oui, oui“ , sagte Xing und lächelte und nickte, und ich war mir nun endgültig sicher, dass er kein Wort verstand. Monsieur aber ließ sich nicht beirren. Zwischendurch verkündete er: „Es muss mehr getrunken werden!“, und schwenkte großzügig den Bordeaux.
    „Non, non!“ , wehrte Xing ab, sobald sich die Flasche seinem Glas näherte, und lächelte, aber er hatte keine Chance. Abstinenzler verabscheute Jacques Piceur noch mehr als Kommunisten. Und so nahm das Drama seinen Lauf.
    Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal mit einem Asiaten trinken waren oder einen dabei beobachtet haben, zum Beispiel beim Oktoberfest. Es ist so: 46 Prozent der Japaner und sogar 56 Prozent der Chinesen fehlt das Enzym ALDH. KeineAhnung, wie es um die übrige Weltbevölkerung steht, der hellhäutige Europäer zumindest hat es, und deshalb kann er trinken. Denn im Körper verwandelt sich Alkohol zunächst in den sehr unangenehmen Stoff Acetaldehyd und dann dank ALDH in harmloses Acetat. Asiaten hingegen sind dem Acetaldehyd ausgeliefert, und was das heißt, konnte man nun bei dem armen Xing beobachten. Experten nennen es das Flash-Syndrom, und so kann man es sich auch getrost vorstellen. Knallroter Kopf, Hitzewallungen, absolute Kommunikationsunfähigkeit. Gut, Letzteres spielte keine Rolle, aber trotzdem. „Ist ihm nicht gut?“, fragte Monsieur Jacques, während Alix und Jean-Luc unseren Gast im Salon aufs Sofa betteten. „Vielleicht eine Käse-Allergie?“ Ich verzichtete auf Aufklärung und wandte mich der Crème brûlée zu. „À propos“ , sagte er in die unvermittelte Stille hinein. „Bevor ich es vergesse – Sie bekommen einen neuen Nachbarn. Ein sehr charmanter junger Mann. Er zieht Anfang des Monats ein.“
    Auch mir fehlte offenbar genügend ALDH oder es hatte bereits kapituliert, jedenfalls drang die Brisanz dieser Nachricht nicht mehr zu mir durch. „Bonne nuit, Monsieur“ war das Einzige, was ich noch zu Stande brachte. Alix, Jean-Luc und Xing waren nicht wieder aufgetaucht.

    „Psst! Éveille-toi!“
    Alix vor meinem Bett. „Kann ich bei dir schlafen? Xing liegt in meinem Bett und schnarcht. Il est rond comme une bille.“ 24
    „Was für ein Weichling“, murmele ich und rücke.

    Am nächsten Morgen:
    „Bon Dieu, j’ai la gueule de bois!“ 25 Jean-Luc stöhnt. Mich freut das. Endlich mal eine menschliche Regung von ihm.
    „Mpf“, macht Alix und löst sich ein Aspirine in Wasser auf. Paul streicht schnurrend um unsere Beine. Monsieur Jacques ist längst wieder unterwegs. „Wie geht es Xing?“, frage ich.
    „Mpf“, macht Alix. Dieses Thema hat sich wohl erledigt. Schweigend trinken wir Tee, bis es mir wieder einfällt. „Wisst ihr schon: Es zieht noch jemand ein. Er hat es gestern ganz beiläufig erwähnt. Ein sehr netter junger Mann .“
    Manchmal wirken Neuigkeiten besser als Aspirin: „Wie bitte? Tu rigoles! Soll das hier eine

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