Ein Jahr in Paris
verlangt dann nach der Abteilungsleiterin.“
„Glaubst du, sie zieht das wirklich noch selbst an? Sie ist doch mindestens siebzig!“
„Ach, weißt du. Die eigentliche Frage ist doch: Für wen macht sie das?“
„Marie-Line! – Meinst du, sie hat in ihrem Alter noch einen Liebhaber?“
„Pourquoi pas. Marguerite Duras und Edith Piaf haben es auch so gemacht. Das belebt.“ Sie summt eine Melodie von Marie Laforêt: „Au printemps, au printemps, au printemps, j’aurai seize ans. Vive la vie, vive l’amour et vive le vent. Je prendrai un ami, un amant ou un mari ... lalalala.“
Marie-Line, Marie-Line, dachte ich und bewunderte insgeheim wieder einmal die Französinnen. Immer mehr erschienen sie mir als wahre Göttinnen des Selbstbewusstseins. Sie mögen sich, dachte ich. Jedenfalls mehr als deutsche Frauen sich mögen. Ich kannte zu Hause eigentlich keine Freundin, die nicht einen stillen Kampf gegen irgendeines ihrer Körperteile führte. Anstatt sie einfach schön zu verpacken.
„Salut, ma chère. Du musst mir mal helfen.“ Überraschend ist Alix zwischen den Kleiderpuppen aufgetaucht, die ich gerade dekorieren soll. Nichts Kreatives natürlich. Das Dekoteam unseres Luxustempels hat verlauten lassen, man wolle jetzt auf allen Etagen die neuen „Themen“ des Herbstes sehen. Also drapiere ich Spitze in den Farben von Waldbeeren. Brombeere, Preiselbeere, Blaubeere, Himbeere. Als meine Mitbewohnerin kommt, kämpfe ich gerade mit einem holunderfarbenen Strumpf, der immer wieder herunterrutscht.
„Mit Vergnügen, Madame. Wenn Sie vielleicht kurz dieses Bein halten würden. Ich suche ein wenig Tesafilm und bin dann gleich für Sie da.“
„Écoute“ , sagt sie. „Ich brauche was Ultramodernes. Rot am Liebsten.“
„Muss es rot sein, Madame? Ich hätte da eine ganz exklusive Kombination in Mauve.“
„Nichts da. Ich meine es ernst. Und es muss rot sein. Rot ist revolutionär.“
Langsam fällt der Groschen.
„Verstehe, der chinesische Maler ist eingetroffen. Dann kann ich Ihnen das Modell Mao von ‚Alumette‘ anbieten. Rote Microfaser und Satin mit eingearbeitetem Push-up. Très séduisant .“
„Du machst dich lustig über mich. Aber warte ab, bis du ihn gesehen hast. Ich sage dir, im Osten liegt die Zukunft.“
Unterdessen verwandelt sie sich in der Kabine in eine flammende Marianne.
„Ist er Kommunist?“
„ Bon sang! Um Himmels Willen, nein. Du musst dir nur mal seine Bilder anschauen. Du kommst doch zur Vernissage, oder? Und bring jemanden mit, wenn du magst.“ Sie drückt mir eine Einladungskarte in der Farbe eines Sonnenaufgangs in die Hand: „L’Est s’éveille“. In Paris erwacht der Osten. Ich war sicher, nach diesem Einkauf würde er nicht allein erwachen müssen.
Am fraglichen Abend schlendere ich mit Gaetano eine kleine Straße rive droite entlang. Alle paarhundert Meter ein ähnliches Bild: erleuchtete Schaufenster, auffällig gekleidete Menschen mit interessanten Brillen drängeln sich in weiß strahlenden Räumen und sind so raffiniert drapiert, dass man im ersten Moment nicht genau weiß, ob sie im Gegensatz zu den an den Wänden verteilten Objekten nicht das eigentliche Kunstwerk sind. Doch nach einer Weile wird es ihnen langweilig, und sie wechseln den Rahmen. Schließlich hat man hier alle gesehen und kann nicht ausschließen, dass bei der Eröffnung nebenan nicht noch aufregendere Menschen sind. Von Ferne gleicht das Ganze einem einstudierten Ritual, das pünktlich einmal im Monat an einem Donnerstagabend stattfindet. Wie ein Bienenschwarm fliegt dann die Kunstszene in ein bestimmtes Viertel ein und vollführt nach einem geheimen Code ihren Schwänzeltanz. Wir fliegen mit und lassen uns von einem hellblau erleuchteten Fenster anziehen. Drinnen ist es, als befände man sich auf dem Grund eines sehr sauberen Swimmingpools. Aus den Boxen in der Ecke fließt langsame Musik. Eine Art Unterwasserlounge. Leider machtblaues Licht alt. Das Paar neben mir ist bestimmt noch keine dreißig, sieht aber aus wie Mireille Mathieu und Johnny Halliday.
„Mein Gott, Didier malt auch nur noch. Wo ist sein Duktus geblieben?!“
„Warst du schon bei Danièle? Sie hat diesen irren Deutschen bekommen. Den mit den Tierbildern, du weißt schon.“
„Die Arme, der ist doch schon längst nicht mehr heiß.“
Ich verstehe kein Wort. Um ehrlich zu sein, ist das überhaupt meine erste Vernissage. Zu Hause wäre ich nie auf die Idee gekommen, mich mit einem Glas Sekt vor ein
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