Ein Jahr in Paris
à Loyer Modéré , was nichts anderes als Sozialwohnung bedeutet.
24 Wörtlich: Er ist rund wie eine Kugel. Soll heißen: Er ist voll wie eine Strandhaubitze.
25 Avoir la gueule de bois: einen Kater haben.
Oktober – Le Munster
6. Kapitel, in dem Thierry in unser Leben tritt, Alix wahnsinnig wird und ich ein doppelt schlechtes Gewissen bekomme.
Erkenntnisse: Das Problem Elsass-Lothringen ist noch nicht ausgestanden.
Aufgabe des Monats: Einen Käse mit Goldmedaille finden.
A LSO, ES HATTEN WEDER M ONSIEUR J ACQUES noch ich gescherzt, und so stand eines Tages Thierry in der Tür. Es muss ein Wochenende gewesen sein, jedenfalls saßen wir gerade beim Frühstück.
„ Salut les gars ! Hallo, Jungs!“ Damit kommt er unserer Feministin Alix natürlich gerade recht. Sie zündet sich betont langsam eine Zigarette an und schaut an unserem neuen Mitbewohner vorbei auf Sacré Cœur am Horizont. Thierry zuckt die Schultern, sagt „Na dann“ und beginnt mit dem Einzug. Zehn Pappkartons und eine IKEA-Lampe, dann sind wir zu viert. Durch die geschlossene Tür dringen ein paar Rumpelgeräusche (es ist nicht so, dass wir das Geschehen nicht aufmerksam verfolgen), dann tönt „Que reste-t-il de nos amours“ in der Version von Patrick Bruel durch die Tür. „So einer also“, sagt Alix, und damit ist das Thema für sie erledigt.
Marie-Antoinette hätte es nicht besser gemacht, dachte ich, und in Erinnerung an Saint-Tropez kam mir zum zweiten Mal der Verdacht, bei der großen Französischen Revolution und ihren Grundsätzen von Égalité, Liberté und Fraternité könnte es sich um eine reine Pro-forma-Angelegenheit gehandelt haben. Nur weil Thierry ganz offensichtlich anderen Umgang pflegte als sie, musste man ihn doch noch lange nicht so behandeln, dachte ich aufgebracht. Aber dann ... Es war nicht wegen der hautengen Jeans und der Motorradstiefel. Auch seine Art, sich auszudrücken, begriff ich eher als eine interessante Erweiterung meines Vokabulars. Charme und Esprit schien er nämlich für eine Sache zu halten, die man Leuten überlassen kann, die sonst nichts zu tun haben.
Selbst folgende Entdeckung konnte mich noch nicht umstimmen: „Ich fass’ es nicht!“ Alix war, ohne sich darum zu scheren, dass ich gerade beim Zähneputzen war, ins Bad spaziert und machte sich jetzt an der Waschmaschine zu schaffen. „Waf enn?“, fragte ich vom Waschbecken her. „Sieh dir das an! Ich werde wahnsinnig!“ Auf ihrem Gesicht ein seliges Grinsen. „Wen will er denn damit verführen!“ Mit spitzen Fingern zog sie ein nasses Etwas aus der Maschine. Es war ein Herrentanga.
Sie fragen sich wahrscheinlich, wie so ein Typ überhaupt bei Monsieur Jacques’ Untermieter werden konnte. Nun, mir war das auch ein Rätsel. Männer wie er, dachte ich, sind in dem Alter längst verheiratet. Und vorher wohnen sie zu Hause bei Mama, aber niemals in einer Wohngemeinschaft. Trotzdem war ich noch immer bereit, ihn zu verteidigen. Mit Thierry war eben ein anderes Paris bei uns eingezogen. Eines, in dem der Fernseher zwölf Stunden am Tag als Hintergrundgeräusch lief (er hatte dazu eigens einen riesigen Flachbildschirm auf eine von Monsieur Jacques’ wackligen Louis XV.-Kommoden gewuchtet, welcher zusammen mit derStereoanlage das Herzstück seiner Einrichtung darstellte), in dem abgesehen von Le Parisien das gedruckte Wort ignoriert und Höflichkeit – also zum Beispiel die Überlegung, dass eventuell nicht alle den gleichen Musikgeschmack haben – als eine Form von Energieverschwendung angesehen wurde.
Aber dann ...
... öffnete ich eines Tages den Kühlschrank.
„Jean-Luc, schnell! Der Kühlschrank! Jemand muss irgendetwas da drinnen vergessen haben.“
Gemeinsam starrten wir in unseren frigo . Es stank wie die Pest. Und da lag „es“ – orangerot, kreisrund, und atmete unter einer Pergamentschicht hervor. „Tja“, sagte Jean-Luc, „das musst du wohl mit Thierry besprechen. Es ist sein Fach.“ Falls ich es vergessen habe zu erwähnen, Thierry bestand auf einem eigenen Kühlschrankfach. Außerdem hatte er Alix gebeten, in der Küche nicht mehr zu rauchen. Sie können sich ja ihre Reaktion vorstellen. Aber zurück zum Kühlschrank.
„Was gibt es denn da zu besprechen? Das muss weg.“ Entschlossen packte ich das Pergament und warf das schmierige Ding in den Müll. „Ich habe damit nichts zu tun!“, rief Jean-Luc mir hinterher, als ich mich samt Mülleimer auf den Weg nach unten machte. Naiv und unwissend wie ich
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